Kedoschim – Unsere guten Eigenschaften

Auf einem oberflächlichen Blick erscheint das Gebot der Tora, daß wir unseren Nächsten lieben, wie wir uns selbst lieben, eigenartig...

4 Min.

Rabbiner Lazer (Elieser Rafael) Brody

gepostet auf 03.05.20

„Und du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (Levitikus 19:21).

 

 

 

 

Auf einem oberflächlichen Blick erscheint das Gebot der Tora, daß wir unseren Nächsten lieben, wie wir uns selbst lieben, eigenartig und fast unmöglich. Wie kann man von einem Juden aus Jemen erwarten, daß er einen Juden aus Belgien liebt, wenn die beiden so völlig unterschiedliche Traditionen, Mentalitäten und Einstellungen haben? Wie kann ein „Chossid“ einen „Litvak“ lieben, wenn die beiden bereits seit Jahrhunderten darüber streiten, wie man Haschem richtig dienen kann? Wie kann ein religiöser Jude einen weltlichen Juden lieben, wenn sich die beiden in so vielen grundlegenden Fragen unterscheiden?

 

 

Die Lehren von Rebbe Nachman liefern eine klare und einfache Antwort auf die obigen Fragen. In seinem Buch Likutei Moharan I: 34d schreibt Rebbe Nachman, daß jeder Jude eine besondere Eigenschaft besitzt, die anderen fehlt. Diese besondere Eigenschaft kann andere Juden inspirieren und ihre Herzen im Dienste von Haschem erleuchten. Als solche sind Juden für ernsthaften spirituellen Gewinn voneinander abhängig.

 

 

So funktioniert das obige Prinzip in der Praxis: Angenommen, daß jemand enorme Geduld und Konzentrationsfähigkeit hat und in der Lage ist, Gemara (Talmud) stundenlang zu lernen. Er trifft einen wohltätigen Juden, der vielleicht nicht so viel Geduld hat, aber eine riesige Inspirationsquelle aus guten Taten und liebevoller Güte ist. Wenn die erste Person die enormen wohltätigen Handlungen der zweiten Person sieht, bricht ihm das Herz und sagt er sich: „Ich mache nicht annähernd genug von dem, was ich in wohltätigen Taten tun sollte. Ich muß mich in diesem Bereich verbessern!“ Als solches verbessert die erste Person aufgrund des Einflußes und des Vorbilds der zweiten Person die „Chessed-Seite“, d.h. die wohltätige und liebevolle Seite ihres Dienstes an Haschem.

 

 

Nachdem die zweite Person einen ernsthaften Gelehrten, der unermüdlich am Lernen festhält, getroffen hat, denkt er: „Ich lerne nicht annähernd genug Tora, wie ich sollte! Guck mal, wie mein Freund vier Stunden lang lernt, ohne von seinem Stuhl aufzustehen! Ich muß viel fleißiger lernen!“ Die zweite Person wiederum stärkt ihren eigenen Dienst an Haschem durch das inspirierende Vorbild der ersten Person.

 

 

Aus der obigen Beziehung ergibt sich eine wunderschön dynamische Aufwärtsspirale. Jeder Mensch spiegelt seine besondere Eigenschaft gegenüber seinem Freund zum gegenseitigen Nutzen beider Menschen wider. Jetzt ist der Gemara-Expert wohltätiger geworden und der wohltätige Mensch ist ein besserer Student geworden. Beide sind jetzt näher an Haschem und sind auch zu besseren Juden geworden! Ihre Herzen fühlen, wie sie sich gegenseitig geholfen haben. So sind sie in der Lage, das Tora-Gebot, ihren Nächsten so zu lieben, wie sie sich selbst lieben, wirklich zu erfüllen. Mit der liebevollen Anleitung von Haschem wird uns das folgende Gleichnis helfen, das oben erwähnte Prinzip von Rebbe Nachman noch besser zu verstehen.

 

 

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Der ukrainische Winter war bitter kalt. Der Schnee schmolz erst in Pessach, und selbst dann waren die Straßen ein kaum verhandelbares, schlammiges Durcheinander von Schlaglöchern. Der jährliche Mai-Bauernbasar in der Stadt Berditchev zog ein Drittel seiner üblichen Teilnehmer an.

 

 

Die Kaufleute waren besonders pessimistisch. Yankele, ein großer Viehhändler aus Zhitomer, verkaufte Pferde. Jedes Mal, wenn er versuchte, einen potenziellen Kunden für eines seiner Pferde zu interessieren, zog sich der Kunde zurück, zuckte mit den Schultern und sagte: „Was nützt mir Ihr Pferd, wenn ich mir kein Geschirr und keinen Wagen leisten kann?"

 

 

Auf der anderen Seite des Marktes saß Yoschke auf einer Holzkiste vor seinem Geschirrhaufen und drehte mit den Daumen. Er hatte den ganzen Tag keinen einzigen Verkauf gemacht.

 

 

Auf der anderen Straßenseite unter einem offenen Schuppen stellte Feivel seine fünf neuen robusten Wagen aus, die garantiert lange halten! Kein einziger Mensch durfte ihn von seinem Rezitieren von Tehillim (Psalmen) unterbrechen, um sich nach dem Preis seiner Wagen zu erkundigen.

 

 

Später am Tag versammelten sich die Kaufleute im örtlichen „Shtiebel“ (chassidische Synagoge) zum Nachmittagsgebet. Nach dem Gebet stiegen sie aus und kehrten zu ihren jeweiligen Verkaufsständen zurück. Feivel, Yoschke und Yankele führten ein Gespräch. Jeder sang sein jeweiliges trauriges Lied und beschwerte sich, daß er keine Kunden und Einkommen hatte.

 

 

Plötzlich fiel Yankele eine wundervolle Idee auf: „Yoschke, was würdest du davon halten, wenn ich eines meiner besten Pferde an eines deiner hochwertigsten Geschirre binde und es dann an Feivels besten Wagen anschließen würde? Wir werden das Ganze in der Mitte des Markts vorstellen und sehen, was passiert. Möchtet ihr eine derartige Partnerschaft testen?“ Yoschke und Feivel stimmten begeistert zu und segneten Haschem und ihrem Kollegen Yankele für die wundervolle Idee.

 

 

Kurz zusammengefaßt brachten das vorgespannte Pferd und der geschirrte Wagen allen drei Händlern fast das Doppelte des Preises jeder allein verkauften Komponente. Bis zum Ende der Woche verkauften sie weitere vier Pferdewagen. Jeder kehrte mit einem besseren Gewinn als jemals zuvor nach Hause zurück und gewann dadurch eine neue Partnerschaft sowie eine neue Freundschaft.

 

 

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So wie jeder Händler mit seinen jeweiligen Waren eine Partnerschaft eingegangen ist und einzelne Teile zu einem effektiven und attraktiven Ganzen kombiniert hat, bringt jeder Jude seine besonderen Eigenschaften in eine Freundschaft und Beziehung mit einem Mitjuden ein. Je mehr man andere Juden wirklich liebt, desto mehr profitiert man von den besonderen Charaktereigenschaften jeder Menschen, die uns sonst fehlen. Wenn wir unsere Mitjuden von diversen Hintergründen lieben, können wir Haschem besser dienen. Mögen wir es aufgrund unserer verstärkten Liebe zu unserem Nächsten verdienen, das Kommen von Moshiach und das Sammeln unserer Brüder und Schwester aus den vier Ecken der Erde schnell und in unseren Tagen zu sehen. Amen!

 

 

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