Der Weg zur Umkehr

… Da steht der jüdische Mensch an Jom Kippur mit gebeugtem Rücken, schlägt sich aufs Herz und bekennt seine Sünden …

4 Min.

Rabbiner Asri´el Ari´el

gepostet auf 06.04.21

… Da steht der jüdische Mensch an Jom Kippur mit gebeugtem Rücken, schlägt sich aufs Herz und bekennt seine Sünden. "Um der Sünde willen, die wir verübt mit Verstocktheit des Herzens… Um der Sünde willen, die wir verübt in Betäubung des Sinnes", und endigen mit der Bitte um Verzeihung: "Verzeih' uns, vergib uns, sühne uns". Doch damit kommt der Geist noch nicht zur Ruhe. Habe ich wirklich vollständige Umkehr getan? Wurde meine Umkehr akzeptiert?

 

Natürlich können wir nicht die himmlischen Legionen belauschen, doch lassen sich einige Dinge aus einem Vergleich von der Umkehr von Sünden zwischen dem Menschen und seinem Nächsten und zwischen dem Menschen und G~tt erlernen.
 
Wenn jemand über seinen Nächsten spricht: "Nein, ich verzeih' ihm nicht", oder "Ich werde ihm das nie vergessen und verzeihen" – was meint er damit genau? Wenn es um eine schwere Anschuldigung geht, sind normalerweise mehrere Dinge im Spiel: "Ich verzeihe nicht" – die gegenseitigen Beziehungen befinden sich außerhalb der normalen Ordnung, die seelische Einstellung ist negativ (Hass, Abstandnahme), auf der praktischen Ebene wurde der Schaden nicht beseitigt, und sicher nicht auf der seelischen Ebene – das Gefühl des Schmerzes, das Getroffensein und die Erniedrigung füllen immer noch das Herz, die Persönlichkeit des Täters wird gegenwärtig negativ bewertet, und in Bezug auf die Zukunft besteht starkes Misstrauen. Im Herzen des Betroffenen herrscht großer Zorn, schlimmstenfalls sogar Rachegelüste oder wenigstens eine Hoffnung auf himmlische Vergeltung. Häufig existieren auch noch finanzielle oder praktische Ansprüche. Vor allem aber wünscht der Betroffene, dass die Missetat dem Täter ordentliche Gewissensbisse verursacht, die ihn bis zu seinem letzten Atemzug – und darüber hinaus – nicht loslassen. 
 
Wenn der Übeltäter vollständige Verzeihung erlangen will, muss er einen langen und schmerzlichen Prozess durchmachen: Er muss den seinem Nächsten verursachten Schmerz anerkennen. Er muss sich den Ablauf der Dinge vom Standpunkt des Betroffenen vorstellen. Er muss die Verantwortung für seine Taten übernehmen und seine Schuld eingestehen. Er muss vor sich selbst und seinem Nächsten beweisen, dass sein Charakter eine solch tiefe Wandlung erfuhr, die ein Vertrauen in ihn, nie wieder diese Sünde zu begehen rechtfertigen. Vor allem aber muss er dem Betroffenen dessen verlorenes Ehrgefühl wiederherstellen – und zwar durch unterwürfiges Verhalten, Selbsterniedrigung und einen geraden Blick auf den Betroffenen, mit dem er Verzeihung erbittet.
 
Natürlich verpflichtet nicht jedes Vergehen zu allen Bestandteilen dieses Vergebungsprozesses. Bagatellfälle kommen mit einem Bruchteil aus, und damit hat es sich. Wo es aber um ein großes Vergehen geht, gibt es keine Abkürzungen. Vielleicht kann man den Betroffenen zu einem Lippenbekenntnis der Vergebung "erpressen"; im Herzen jedoch bleiben Narben, und die gegenseitigen Beziehungen werden nicht zu ihrer früheren Normalität zurückkehren. Wenn aber der Schuldige Mut fasst und den ganzen Prozess von Anfang an bis zum Ende durchmacht, wird ihm die "Umkehr aus Liebe" zuteil, bei der "Taten in böser Absicht in verdienstvolle Taten" umgewandelt werden, und die gegenseitigen Beziehungen werden sogar freundschaftlich und viel enger, als sie es vor der Verletzung waren. 
 
Von den irdischen Beziehungen wollen wir nun auf die himmlischen Beziehungen schließen. 
 
Der Mensch, der zu seinem G~tt in Reue umkehrt, möchte diese Beziehung reparieren. "Gib mir wieder die Wonne deines Heils, und mit einem willigen Gemüt stütze mich" (Psalm 51,14). "Wirf uns nicht hinweg aus deinem Angesichte, und den Geist deiner Heiligung nimm nicht von uns" (Schma kolenu). Er möchte seine Persönlichkeit in moralischer Hinsicht wieder in Ordnung bringen. "Ein reines Herz erschaffe mir, G~tt, und ein festes Gemüt verjünge in meinem Innern" (Psalm 51,12). Er ist bereit, G~tt für alle seine Missetaten gegen ihn zu "entschädigen". Zwar "Verlangst du nicht Opfer, dass ich es gebe, Ganzopfer begehrst du nicht" (V.18), sondern "die Opfer G~ttes sind ein gebrochenes Gemüt, ein gebrochenes, zerknirschtes Herz, G~tt, verschmähest du nicht" (V.19). Vor allem aber möchte er sein Gewissen von der schweren Sündenlast reinigen, die ihn drückt. "Verkünde mir Wonne und Freude, dass jauchzen die Gebeine, die du zerschlagen… Gib mir wieder die Wonne deines Heils, und mit einem willigen Gemüt stütze mich" (V.10+14).
 
Dazu muss er einen leidvollen und pedantisch genauen Prozess bis hin zum Innersten der Seele durchlaufen. Er muss seine Sünde anerkennen. "Denn meine Missetat kenn ich, und meine Sünde ist mir stets vor Augen" (V.5). Er muss zu verstehen versuchen, in welcher Weise er sich gegen die Herrschaft G~ttes und dessen Welt vergangen hat. "Dir allein habe ich gesündigt, und was böse in deinen Augen habe ich begangen" (V.6). Er muss Verantwortung für seine Taten übernehmen und mit dem Ausspruch "ich habe gegen G~tt gesündigt" seine Schuld eingestehen, ohne Entschuldigungen zu suchen und ohne künstliche Ausreden wie etwa "Das Weib, das du mir gegeben hast…" (Gen. 3,12). Daher gibt er nun zu: "Wir haben uns verschuldet, waren treulos… wir haben uns vergangen.. waren übermütig.. empörten uns dir… taten Verbrecherisches… übten Frevel… gingen irre und haben irregeführt" (Aschamnu-Gebet). Er muss einen seelischen Umschwung veranlassen, der sicherstellt, dass er nicht rückfällig wird. Vor allem aber muss er ganz persönlich und direkt vor G~tt erscheinen und die Missachtung der Würde des Königs aller Könige aus der Welt schaffen, den Kern aller seiner Sünden, und vor ihm beschämt und gebeugt die Worte sprechen: "Um der Sünde willen, die wir vor dir verübt…".
 
Es ist nicht leicht, diesen Prozess in allen Einzelheiten durchzuführen. Unsere Umkehr ist im allgemeinen nur eine teilweise. Wir erhalten dann auch nur eine teilweise Reaktion: "Verzeihung" oder "Vergebung" als Verzicht auf eine Bestrafung, zum Teil und auf eine begrenzte Zeit, oder vollkommen und beständig. Manchmal erzielen wir eine wirkliche Reinigung – "Entsühnung". Darum bitten wir: "Und für sie alle, G~tt der Verzeihung! verzeih' uns, vergib uns, sühne uns".
 
Doch das reicht uns noch nicht. Wir wollen die vollkommene Umkehr in Reinheit, die unseren Charakter von innen her bessert, und nicht nur durch Entsühnung, die man mit einem äußerlichen Abwischen vergleichen könnte. Und diese Stufe ist die schwierigste, aber auch unser Ziel. "Denn an diesem Tage wird er euch sühnen, dass ihr rein werdet; von all euern Sünden sollt ihr rein werden vor dem Ewigen" (Lev. 16,30). Über diese Reinheit, nach der wir uns so sehr sehnen, die Reinheit, die die Sünde von der Wurzel her beseitigt, eine Umkehr aus Liebe, die "Taten in böser Absicht in verdienstvolle Taten" umwandelt – erklärte Rabbi Akiva: "Heil euch, Israel! Wer ist es, vor dem ihr euch reinigt, wer ist es, der euch reinigt? Es ist euer Vater im Himmel, wie es heißt: und ich werde reines Wasser über euch sprengen, dass ihr rein werdet (Jecheskel 36,25). Ferner heißt es: Die Hoffnung/Mikwe Israels ist der Herr (Jirmijahu 17,13) – wie das Tauchbad die Unreinen reinigt, so reinigt der Heilige, gepriesen sei er, Israel" (Joma 85b, Mischna).
 
Die vollkommene Umkehr, die Umkehr der Reinheit, erreicht man nur mit himmlischer Unterstützung. "und ich werde reines Wasser über euch sprengen, dass ihr rein werdet…". "Und der Ewige dein G~tt wird beschneiden dein Herz und das Herz deiner Nachkommen, zu lieben den Ewigen deinen G~tt mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele, auf dass du lebest" (Dt. 30,6).
 
 

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