Vorsicht, (Schein-)Heiligkeit!

Die Gründe für die Zerstörung des 1. und des 2. Tempels sind hinlänglich aus dem Talmud bekannt (Joma 9b), und auch das Verhältnis zwischen den beiden.

4 Min.

Rabbiner Eran Tamir

gepostet auf 06.04.21

Die Gründe für die Zerstörung des 1. und des 2. Tempels sind hinlänglich aus dem Talmud bekannt (Joma 9b), und auch das Verhältnis zwischen den beiden. Der erste Tempel wurde wegen drei schwerer Sünden zerstört, die in jener Generation weit verbreitet waren: Götzendienst, Unzucht und Blutvergießen. Demgegenüber wurde der zweite Tempel wegen „grundlosen Hasses“ zerstört, und aus jener Talmudstelle lernen wir ferner, dass grundloser Hass schlimmer ist als die drei vorher genannten Sünden zusammen, denn die Zerstörung des ersten Tempels währte nur etwa 70 Jahre, die des zweiten dauert nach fast 2000 Jahren immer noch an. Die Größe der Verdorbenheit erfordert eine ebenso große Besserung; auch erkennt man daran, wie schlimm grundloser Hass wirklich ist.
 

Wenn man aber genauer in den Talmud schaut, findet man dort einen anderen Grund für die Zerstörung als „grundlosen Hass“, denn der Talmud fragt dort:
 
Auch beim ersten Tempel gab es grundlosen Hass, und demnach führten vier Sünden zu dessen Zerstörung, beim zweiten aber „nur“ grundloser Hass, und wie kann es also angehen, dass der grundlose Hass des zweiten Tempels schwerer wiegt als der grundlose Hass des ersten Tempels plus drei weiterer Sünden?
 
Darauf gibt der Talmud zwei Antworten, von denen wir uns diesmal die zweite näher betrachten wollen:
 
Es stimmt, sowohl beim ersten als auch beim zweiten Tempel gab es grundlosen Hass, der wesentliche Unterschied bestand indes darin, dass beim ersten dieser Hass offen zutage trat, d.h. wenn Einer den Anderen hasste, wusste der Andere davon, da der Eine kein Geheimnis daraus machte. Während des zweiten hingegen war dieser Hass verdeckt, d.h. nach außen hin sah alles ganz normal aus, im Gespräch, im gesellschaftlichen Leben usw., innerlich aber, unter der Oberfläche, existierte ein tiefer Hass zwischen dem Einen und seinem Nächsten, der versteckt getragen und nicht offen gezeigt wurde, wie es dort im Talmud heißt:
 
„…bedeutender ist ein Fingernagel der Ersteren als der Leib der Späteren“, d.h. beim ersten Tempel war der Hass nach außen sichtbar wie ein geschliffener Fingernagel, der jemanden zerkratzen will; doch kann man sich vor ihm in Acht nehmen und vielleicht sogar das Problem lösen und die Beziehungen heilen. Beim zweiten Tempel jedoch saß der Hass im Bauch, im Verborgenen, oder wie der Talmud es dort ausdrückt:
 
„Die Sünden der Ersteren wurden bekannt gegeben, so wurde auch das Ende [ihrer Verbannung] bekannt gegeben, die Sünden der Späteren wurden nicht bekannt gegeben, so wurde das Ende [ihrer Verbannung] nicht bekannt gegeben“, und der MaHaRSchA-Kommentar zur Stelle:
 
„Beim zweiten Tempel hatten sie den grundlosen Hass im Herzen, doch nach außen hin gaben sie sich freundlich.“
 
Ebenso schrieb auch Rabbiner Naftali Z.J Berlin (der Neziv) aus Woloschin in der Einleitung zu seinem Torakommentar zum Buche Bereschit zur Generation während des zweiten Tempels:
 
„Es gab Tora-Treue und besonders Fromme und die sich ständig mit der Tora befassten, doch waren sie nicht aufrichtig in ihrem täglichen Umgang; wegen des gegenseitigen grundlosen Hasses in ihren Herzen misstrauten sie jedem, der sich nicht so wie sie in Sachen Gottesfurcht verhielt, vielleicht gehöre er zu den Sadduzäern oder den Ketzern, und durch diese parteiliche Aufsplitterung gelangten sie zu Blutvergießen und allen Schlechtigkeiten dieser Welt, bis dass der Tempel zerstört wurde, die gerechte Strafe, denn Gott leidet keine „Frommen“ wie jene, sondern nur diejenigen, die auch in ihrem täglichen Umgang aufrichtig und nicht hinterhältig sind, auch wenn sie religiöse Motive anführen, denn das führt zur Zerstörung der Schöpfung und des gesellschaftlichen Lebens.“
 
Es ergibt sich aus alledem, dass der zweite Tempel nicht wegen grundlosen Hasses zerstört wurde, denn den gab es auch während des ersten Tempels, und warum dauert dann die Zerstörung des zweiten Tempels so lange an? Vielmehr war der wirkliche Grund die Scheinheiligkeit jener Generation. Die Scheinheiligkeit ist ein furchtbares Übel. Sie gleicht einer Maske und einer Verkleidung auf dem Menschen. Nach innen ist er so, und nach außen will er anders gesehen werden, bis hin zum genauen Gegenteil seines wahren Charakters. Er bemalt sich mit bunten Farben, damit man glaube, er sei ganz anders, erfolgreicher, besser usw. Auf ein wackeliges und lügenhaftes Fundament lässt sich kein Turm der Wahrheit und des Guten bauen. Die Krankheit der Scheinheiligkeit bedeutet eine große Fäulnis im Menschen, und gibt es keine Möglichkeit auf der Welt, irgendetwas Wahrhaftiges, Geradliniges und Wertvolles darauf zu bauen. Jede Generation, in deren Tagen der Tempel nicht erbaut wurde, gilt, als wäre er in ihren Tagen zerstört worden, weil der Grund für die Zerstörung immer noch weiter besteht.
 
Wir leben in einer Zeit, in der es einerseits ein großes Erwachen der Suche nach der Wahrheit gibt, nach der göttlichen Wahrheit und nach der einfachen und geradlinigen Wahrheit zwischen dem Menschen und seinem Nächsten. Das Volk Israel dürstet nach der Wahrheit, nach Aufrichtigkeit, und darum verdrängt es aus seiner Mitte abstoßende Erscheinungen von mangelnder Aufrichtigkeit, Scheinheiligkeit und Verkrummtheit, wie wir es in den letzten Jahren erleben. Andererseits gibt es aber auf diesem Gebiet noch viel zu verbessern. Scheinheiligkeit gibt es immer noch, sie ist fast ein fester Bestandteil unseres Alltags, wir bemalen uns immer noch mit allen möglichen Farben, die mit jeder Mode wechseln, um in den Augen Anderer innerhalb des jüdischen Volkes Gefallen zu finden, und auch außerhalb in den Augen der Völker der Welt.
 
Mögen wir mit Gottes Hilfe wieder zu uns zurück finden und die Farbe ablösen, die uns von außen verdeckt. Mögen wir die Scheinheiligkeit überwinden, die sich nach außen hin so sehr bei uns eingenistet hat, und offenbaren wir alle ein Streben nach Wahrheit, ein Gefühl innerlicher, wahrhaftiger israelitischer Aufrichtigkeit, und durch das Verbannen der Scheinheiligkeit aus unserer Mitte werden wir das furchtbare Verderben beseitigen, das schwerer wiegt als vier Hauptsünden – Götzendienst, Unzucht, Blutvergießen und offener grundloser Hass – und erreichen dadurch den Aufbau des Tempels zu unserer vollkommenen Erlösung, Amen.
 
 
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