Nicht zu überhören

Zu Beginn des Jom-Kippur-Festes sprechen wir nach unserer Ankunft in der Synagoge das Kol Nidre. Selbst Juden, die keine große Verbindung zur Religion haben, wissen dies.

6 Min.

Rabbiner Avichai Apel

gepostet auf 05.04.21

Warum das Eingangsgebet zum Feiertag symbolhaft für Jom Kippur ist

Zu Beginn des Jom-Kippur-Festes sprechen wir nach unserer Ankunft in der Synagoge das Kol Nidre. Selbst Juden, die keine große Verbindung zur Religion haben, wissen dies oder nehmen bereits am Kol-Nidre-Gebet teil. Das Besondere des Gebets sind weniger der Text oder die Melodie, sondern vielmehr die Tatsache, dass es dreimal wiederholt wird. Zudem stehen während des Betens drei Personen aus der Gemeindeleitung weiß gekleidet auf der Bühne.

Das Kol-Nidre-Gebet ist das Gebet, mit dem Jom Kippur überhaupt beginnt. Es wird vor Sonnenuntergang gesprochen, also vor dem 10. Tischri – dem Jom-Kippur-Fest. Es beinhaltet einige Verse, aus denen die Bedeutung des Gebets und vielleicht die des ganzen Festes verständlich wird. Mag sein, dass die spezielle Bedeutung des Kol Nidre darin besteht, dass es das Hauptanliegen von JomKippur bereits zu Beginn des Tages vorbringt, mit dem Ziel: Dem Gerechten muss das Licht immer wieder aufgehen.

 

ZIELVORGABE 

Eine seiner Tugenden besteht darin, dass der Mensch, der irgendeine Aufgabe erhält, immer wissen möchte, wohin sie ihn führt. Er ist bereit, sowohl leichte wie auch schwierige Aufgaben auf sich zu nehmen, doch dazu möchte er eine klare Definition des Ziels haben, um die Aufgaben am besten ausführen zu können. Der Grund dafür ist nicht pure Neugier, sondern die Erkenntnis, dass er viel mehr Anstrengung investieren und den Erfolg suchen wird, wenn er das Ziel kennt. 

Auch ein Chefkoch achtet weniger auf Qualität, wenn er für seinen eigenen Haushalt kocht, als wenn er Speisen für hochkarätige Personen wie etwa für einen Ministerpräsidenten vorbereitet. Die Aktion ist die gleiche, aber da er genau weiß, für wen dieses Gericht gedacht ist, ändert sich sofort seine Aufmerksamkeit in allen Phasen der Vorbereitung, um ein besseres Ergebnis erzielen zu können. 

Anhand dieses Beispiels können wir nachvollziehen, dass die erste Frage, die an Jom Kippur gestellt wird, lautet: Was ist unser Ziel? Warum müssen wir eigentlich in den nächsten 24 Stunden fasten? Was wird uns anspornen, Teschuwa zu machen und vor G’tt unsere Missetaten und Irrtümer des vorherigen Jahres zu beichten? Diese Frage kann nicht einfach so beantwortet werden. 

 

TESCHUWA 

Eigentlich hatten wir viel Zeit im Elul, dem Monat der Teschuwa (Umkehr) vor Rosch Haschana, auf diese Frage Antworten zu geben. Aber möglicherweise haben es einige nicht gehört oder konnten nicht daran erinnert werden. Andere können sich vielleicht etwas weniger auf die Bedeutung des heiligen Tages konzentrieren. Deshalb haben die früheren Weisen am Anfang des Gebets das Ziel erläutert, sodass die Bedeutung des heiligen Tages verinnerlicht wird. Die Menschen bekommen dadurch einen Ansporn, zu fasten und umzukehren, sodass sie das Ziel erreichen können.

»Dem Gerechten muss das Licht immer wieder aufgehen und Freude den frommen Herzen« (Psalm 97, 11). Die früheren Weisen erzählen, dass während der Schöpfung der Welt der Schöpfer feststellte, dass das Licht zu stark war, um den Weg zu zeigen. Deshalb nahm er etwas davon und bewahrte es für die Gerechten in der nächsten Welt auf (Raschi: 1. Buch Mose, 1, 7).

Der Mensch verwendet das Licht, um seinen Weg zu finden. Das Licht ist die Weisheit, die es uns ermöglicht, unsere Wege in dieser Welt richtig zu erkennen und zu führen. Der Schöpfer stellte fest, dass, falls wir stärkeres Licht hätten, wir nicht genau wüssten, wie wir es verwenden sollen. Es könnte blenden und unseren gesamten Halt in der Welt erschüttern. Deshalb reduzierte der Schöpfer das Licht in der Welt, um uns etwas Gutes zu tun und unsere Wegfindung auf der Welt zu erleichtern. 

Aber der Mensch, der sich auf der Welt richtig verhalten hat und das Licht und die Weisheit verwendet hat, um das richtige Ziel zu erreichen, besitzt das Recht, eine Vergünstigung zu erhalten. Diese Vergünstigung ist das vom Schöpfer aufbewahrte Licht. Am Anfang von Jom Kippur wird uns das Ziel in dem Gebet gezeigt. Das Ziel ist es, alles so gut wie möglich zu tun, um von dem Licht genießen zu dürfen. 

VERANTWORTUNG 

Der Mensch soll versuchen, auf dem Weg alle Missetaten wegzuschaffen, wenn er einen Idealzustand und ein Idealniveau erreichen möchte. Das ist ein Zustand, in dem das Licht vorhanden ist, das für die Gerechten aufbewahrt wird. Er soll seinen Weg prüfen und alle Hindernisse beiseiteschaffen, die ihn beim Erreichen des Zieles hindern könnten. 

Und nicht nur das, er soll auch versuchen, sich von allem zu entfernen, was ihn schlecht beeinflussen könnte. Dieser Vorgang ist uns bereits seit dem Kindesalter bekannt. Wenn wir möchten, dass ein Schüler bessere Leistungen in der Schule erreicht, setzen wir ihn neben einen besseren Schüler und bitten ihn gleichzeitig darum, Kontakte zu schlechteren Schülern zu meiden. 

Aber zu Beginn des Jom-Kippur-Festes, nachdem das Ziel erläutert wurde, erklären die früheren Weisen, dass gerade heute ein anderer Weg gewählt werden soll. Natürlich muss man das Böse fernhalten, um das Gute zu erreichen. In unserem Fall aber soll man diejenigen, die Schlechtes tun, weder entfernen noch exkommunizieren. 

An Jom Kippur tragen wir die Verantwortung für alle, Gerechte und Böse beten gemeinsam und versuchen, das gleiche Ziel zu erreichen. Rabbi Schimon Chasida formulierte es noch schärfer und definierte jedes Fasten, an dem keine Übeltäter aus dem Volk Israel teilnehmen, als ungültig (Kritut 6, 72).

GUT UND BÖSE 

Die Entfernung von den Bösen ist etwas Positives. Wir dürfen aber die Schlechten nicht ausweisen, sie sollen vielmehr mit der Zustimmung G’ttes in unsere Gebete einbezogen werden. An Jom Kippur soll selbst derjenige, der für einen guten Menschen gehalten wird, sich für die Sünder verantwortlich erklären. 

Aus der verbindenden Bruderschaft durch die erhaltene Zustimmung des Publikums in dem ›unteren‹ sowie ›oberen‹ Gericht soll man sich an G’tt wenden und sagen: Es ist mir bewusst, dass mein Prozess des Weiterkommens keinen egoistischen Charakter hat, sondern eine kollektive Verantwortung besitzt. 

Alle Anwesenden sollen deshalb um die Zustimmung bitten, mit den Sündern beten zu dürfen. Wir müssen dabei auch daran denken, dass vielleicht wir selbst Sünder sind, die um die Zustimmung des Publikums bitten müssen, um gemeinsam beten zu dürfen.

 

 

AUSSAGE 

Es stellt sich nun die Frage, wie dieses Ziel erreicht werden soll. Der nächste Teil des Kol Nidre ist einer der bekanntesten und unverständlichsten überhaupt. In das Kol-Nidre-Gebet werden aramäische Wörter integriert, die ihren juristischen Sinn verbergen. Zu Beginn von Jom Kippur wird den Aussagen der Menschen große Aufmerksamkeit zuteil. Während der nächsten 24 Stunden werden wir unsere Aussagen in Gebeten und Bitten verwenden. 

Die früheren Weisen maßen den von Menschen getroffenen Aussagen große Bedeutung bei: »Tod und Leben stehen in der Zunge Gewalt« (Sprüche, 18, 21). Die Zunge des Menschen bringt Gutes wie Böses. Nicht der Richter allein trifft ein Urteil über den Menschen bei seinem entscheidenden Schuld- oder Freispruch, sondern auch der Mensch selbst mit seinem Wort, seinem Image, seinem Stand und den Beziehungen, mit denen er die Umgebung beeinflussen kann.

 

 

GELÜBDE 

Ein Jahr lang gehen wir mit unsere Aussagen Verpflichtungen ein und versprechen uns und anderen Menschen, unterschiedliche Dinge zu tun. Egal, ob der Mensch sich verpflichtet oder versprochen hat, Almosen zu geben, jemandem zu helfen oder sein Verhalten zu verbessern. Diese Aussagen behalten ihre Gültigkeit, gleichgültig, ob der Mensch seine Versprechen auch einhält. Wir lösen deshalb seine verbalen Gelübde auf, sodass es möglich sein wird, die Gebete zu beten, ohne an diese unerfüllten Verpflichtungen weiter gebunden zu sein. Deshalb erklären wir, dass alle Gelübde vom letzten bis zum kommenden Jom Kippur als aufgelöst gelten, um danach beten zu können.

»Lass nicht zu, dass dein Mund dich in Schuld bringe, und sprich vor dem Boten Gottes nicht: Es war ein Versehen. Gott könnte zürnen über deine Worte und verderben das Werk deiner Hände.« »Herr, tu meine Lippen auf, dass mein Mund deinen Ruhm verkündige«, heißt es dazu. Wenn sie dies getan haben, erreichen wir eine weitere Phase des Verständnisses von Jom Kippur. Dieser Tag ist als Tag des Gerichts und der Vergebung bekannt. Woher kommt das? Woher wissen wir, dass G’tt uns alle Sünden vergeben wird?

Der 10. Tischri, das Datum, an dem Jom Kippur gefeiert wird, scheint historisch gesehen sehr interessant zu sein. Es handelt sich dabei um den Tag, an dem Moses zum zweiten Mal mit den Gesetzestafeln vom Berg Sinai herabstieg und sie an das Volk Israel weitergab.

40 Tage verbrachte Moses auf dem Berg Sinai, um G’tt um Vergebung zu bitten, nachdem das Volk Israel mit dem Goldenen Kalb gesündigt und Moses die ersten Tafeln zerbrochen hatte. An diesem Tag vergab G’tt dem Volk Israel seine Sünde (Raschi: 5. Buch Mose 9, 18). Deshalb sagen wir zu Beginn des heiligen Tages, dass seit Generationen seine zentrale Bedeutung in der Entschuldigung und Vergebung liegt.

 

 

MOTIVATION 

Bereits vor Beginn der Jom-Kippur-Gebete soll die Motivation des Menschen gestärkt werden, denn er kann sich möglicherweise nicht vorstellen, dass er das erwünschte Ziel der Vergebung und Nähe zu G’tt erreichen kann. Wir denken an dem Tag daran, dass das Volk Israel seine Taten korrigiert und auf den besseren Weg zurückkehrt. 

G’tt erkennt, dass das Volk Israel die Sünden irrtümlich begangen hatte und vergibt ihm. »So wird es vergeben der ganzen Gemeinde der Israeliten, dazu auch dem Fremdling, der unter euch wohnt, weil das ganze Volk an solchem Versehen teilhat« (4. Buch Mose 15, 26). »Vergib nun die Missetat dieses Volks nach deiner großen Barmherzigkeit, wie du auch diesem Volk vergeben hast von Ägypten an bis hierher« (4. Buch Mose 14, 19).

Nach einer solchen Einführung von Jom Kippur durch Kol Nidre bekommt unser Leben eine andere Bedeutung. Jetzt können wir verstehen, dass das Leben ein besonderes Geschenk ist, das wir täglich erneut von G’tt erhalten und das nicht selbstverständlich ist.

Unser Leben hat ein klares Ziel. Seit der Ankunft eines Menschen in dieser Welt strebt er danach, gut zu handeln und das Gute in die Welt zu bringen. Sein Ziel ist es, auf der ganzen Welt die Vollkommenheit zu erreichen und den Reichtum und das Licht, das für die Gerechten erhalten wird, für die ganze Welt zu öffnen. 

Nachdem der Mensch all das verstanden hat, kann dem Sche’hechejanu-Segen zweifellos eine besondere Bedeutung zukommen. Unser Dasein ist von dem Ziel begleitet, ein Leben auf hohem moralischem Niveau zu führen, und dafür sind wir dankbar und sagen: »Schehechejanu w’kijmanu w’higianu lisman ha’se«.

 

 

Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Frankfurt und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD).

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