Ohne Gebotserfüllung keine Freiheit

War die Befreiung unserer Vorfahren aus der ägyptischen Sklaverei ein unverdientes Geschenk? Oder mussten die Israeliten sich zuerst als der Erlösung würdig erweisen?

4 Min.

Prof. Dr. Yizhak Ahren

gepostet auf 05.04.21

Eine Betrachtung zum Pessach-Fest

In der Pessach-Haggada, die wir in der Sedernacht lesen, heisst es: "Sklaven sind wir gewesen dem Pharao in Ägypten. Da führte Gott uns von dort hinaus mit starker Hand und ausgestrecktem Arm. Und hätte der Heilige, gesegnet sei Er, unsere Väter nicht aus Ägypten hinausgeführt, so wären wir, unsere Kinder und Kindeskinder dienstbar geblieben dem Pharao in Ägypten."

An dieser Stelle drängt sich uns folgende Frage auf: War die Befreiung unserer Vorfahren aus der ägyptischen Sklaverei ein unverdientes Geschenk? Oder mussten die Israeliten sich zuerst als der Erlösung würdig erweisen? Für ein Verständnis der jüdischen Weltanschauung ist es wichtig zu wissen, dass unsere Vorfahren vor dem Auszug aus Ägypten geprüft wurden.Nach dem Zeugnis der Schrift haben sie den Test bestanden, und erst dann erlebten sie die Befreiung.

Worin bestand die keineswegs leichte Prüfung? Noch vor der zehnten und letzten Plage gab Gott Mosche und Aharon folgenden Befehl: "Redet zu der ganzen Gemeinde Israels also: Am zehnten dieses Monats nehme sich ein jeglicher von ihnen ein Lamm für ein Stammhaus, ein Lamm für ein Haus.(. . . .) Und es bleibe euch in Verwahrung bis zum vierzehnten Tage dieses Monates, und die ganze versammelte Gemeinde Israel schlachte es gegen Abend. Und sie sollen nehmen von dem Blute und tun an die beiden Pfosten und an die Oberschwelle, an den Häusern, in welchen sie es essen. Und sie sollen das Fleisch essen in dieser Nacht, gebraten am Feuer, mit ungesäuertem Brote; und bittere Kräuter sollen sie dazu essen." (2. Buch Moses, Kap.12, Verse 3 und 6-8). Die Zubereitung dieses von Gott angeordneten Opfers war keine harmlose Handlung, sondern vielmehr eine revolutionäre Tat, die Verletzung eines ägyptischen Tabus!

Wenige Verse später steht in der Tora: "Mosche rief alle Ältesten Israels und sprach zu ihnen: Ziehet heraus und nehmet euch Schafe für eure Familien und schlachtet das Pessach" (Vers 21). Rabbi Jose Haggelili erklärt (im Midrasch Mechilta zur Stelle) die zwei Verben dieses Verses wie folgt: "Ziehet heraus –  entfernt euch vom Götzendienst. Nehmet euch – beschäftigt euch mit einer Mitzwa, einem Gebot Gottes." Der Zusammenhang ist klar: Wer noch am ägyptischen Götzendienst festhält, bleibt ein Knecht Pharaos – dann macht es gar keinen Sinn, ein Pessach-Opfer zu bringen. Die Beschäftigung mit dem Pessach-Lamm markiert einen Wendepunkt in der Haltung der Israeliten im Lande Ägypten. Bis dahin waren sie Sklaven Pharaos; durch ihre revolutionäre Aktion wurden sie zu Dienern des Ewigen.

Wie Raschi in seinem klassischen Kommentar zu einem der oben zitierten Verse bemerkt, bekamen die Israeliten vor dem Auszug zwei Mitzwot, nicht nur das bereits erörterte Pessach-Gebot. Welches ist das zweite Gebot? Die Beschneidung (hebr.: Mila). Übrigens sind die genannten zwei Mitzwot die einzigen positiven Gebote in der Tora, auf deren Nichterfüllung die himmlische Karet-Strafe steht.

Der Maharal von Prag erläutert, warum gerade die Gebote Mila und Pessach schon vor dem Auszug gegeben (und befolgt) wurden. Mila ist schon seit den Tagen unseres Stammvaters Abraham das Zeichen der Diener Gottes – im Tischgebet danken wir Juden dem Ewigen "für den Bund, den Du an unserem Fleisch besiegelt hast". Die vollzogene Beschneidung zeigte an, dass die Israeliten nicht länger Pharaos Sklaven waren. Jedoch rechtfertigte das Bundeszeichen alleine noch nicht die Erlösung. Die Diener des Ewigen mussten durch eine bestimmte, ihnen vorgeschriebene Handlung beweisen, dass sie Gott tatsächlich zu dienen bereit waren. Das darzubringende Pessach-Opfer wird in der Tora mehrfach als "Dienst" bezeichnet.

Die Schrift bezeugt: "Die Kinder Israels gingen und taten; wie der Ewige Mosche und Aharon geboten hatte, so taten sie" (2.Buch Moses, Kap. 12, Vers 28). Nach Ansicht von Rabbiner Joseph B. Soloveitchik stellt diese Handlungsweise der Israeliten ein größeres Wunder dar als die bemerkenswerten Zeichen, die in der Tora sowie in der Pessach-Haggada aufgelistet werden. Ein Volk von Sklaven, das nur die Sprache der Gewalt kannte, wurde transformiert in eine Nation, die auf das Wort des Ewigen hört. Eine erstaunliche Verwandlung!

Im Verlauf der Sedernacht werden etliche Bibelverse angeführt und ausgelegt. Über eine Passage, die nach rabbinischer Interpretation vom Blut der Beschneidung und vom Blut des Pessach-Opfers handelt, wird bedauerlicherweise manchmal rasch hinweggelesen. In manchen Haggada-Ausgaben fehlt sogar ein Teil des nun folgenden Textes.

Es handelt sich um Worte des Propheten Jecheskel: "Zehntausendfach wie den Spross des Feldes hatte ich dich gemacht, du wurdest zahlreich und groß (. . .), doch warst du nackt und bloß. Und ich zog an dir vorüber, und ich sah dich beschmutzt mit deinem Blute, und ich sprach zu dir: durch dein Blut sollst du leben; und ich sprach zu dir; durch dein Blut sollst du leben" (Kap. 16, Verse 7 und 6, und zwar  in dieser Reihenfolge!).

Nach der Mechilta, einem Midrasch, der im 3. Jahrhundert im Land Israel redigiert wurde, bezieht sich Jecheskels Angabe "nackt und bloß" auf die Tatsache, dass die Israeliten, als die Befreiung eintreten sollte, noch keine Verdienste aufweisen konnten, die durch Ausübung von Mitzwot zu erwerben sind. Daraufhin erhielten sie von Gott die zwei Gebote Pessach-Opfer und Mila – "durch dein Blut sollst du leben; durch dein Blut sollst du leben" – , deren Erfüllung sie der zugesagten Erlösung würdig machte.

Es ist bemerkenswert, dass mehrere Mitzwot der Tora den Kreis derjenigen Menschen einschränken, die vom Pessach-Opfer essen dürfen: "Gott sprach zu Mosche und Aharon: Dies ist die Bedingung des Pessachs. Kein Sohn des Fremden darf davon essen" ( 2. Buch Moses, Kap.12, Vers 43 ). Gemeint sind, wie Raschi erklärt,  sowohl Nichtjuden als auch solche Juden, die aus irgendwelchen Gründen vom Judentum abgefallen sind. Es ist nicht schwer zu begreifen, warum es Menschen, die dem Heidentum angehören, verboten wurde, vom Pessach-Opfer zu geniessen. Diese Leute  leugnen gerade dasjenige, was durch das Dank-Opfer zum Ausdruck kommen soll: die Anerkennung der Errettung  durch den Ewigen in der Pessach-Nacht. Nur treue Bundesmitglieder sind berechtigt, Fleisch vom Pessach-Lamm zu essen.

Nicht so leicht zu verstehen ist hingegen ein zweites Gebot, das einigen Juden das Essen vom Pessach-Opfer verbietet: "Kein Unbeschnittener darf davon essen" ( 2. Buch Moses, Kap. 12, Vers 48). Nach Raschis Erklärung ist an dieser Stelle von einem Mann die Rede, dessen zwei Brüder infolge der Mila gestorben sind;ihm ist deshalb die Mila verboten. Der Autor von Sefer HaChinuch teilt Raschis Ansicht. Warum wird dieser Jude, den keinerlei Schuld trifft, vom Genuss des Pessach-Opfers ausgeschlossen? Vielleicht will die Tora an dieser Stelle noch einmal die Wichtigkeit der Beschneidung unterstreichen, indem sie nicht einmal eine sinnvolle Ausnahme von der Regel gelten lässt.

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