Auge um Auge

"Auge um Auge" bedeutet Geldentschädigung. Unsere talmudischen Weisen bringen viele verschiedene Beweise dafür ...

4 Min.

Rabbiner Schlomo Aviner

gepostet auf 05.04.21

Parschat "Emor" (Lev. 21,1 – 24,23) S.404

 

Auge um Auge

 

"Auge um Auge" bedeutet Geldentschädigung. Unsere talmudischen Weisen bringen viele verschiedene Beweise dafür: Wenn zum Beispiel der Schädiger bereits auf einem Auge blind ist, würde es ja enorm ungerecht sein, ihm zur Strafe auch noch das gesunde Auge zu entfernen. Überhaupt könnte das Herausnehmen eines Auges zum Tode führen, sodass das Urteil in der Praxis "Leben um Auge" lautete (Baba kama 93b/94a – siehe auch das berühmte Streitgespräch zwischen Rabbiner Sa'adia Gaon und dem Karäer Ben Suta, zitiert im Torakommentar des Ibn Esra zu Ex. 21,24 und Lev. 24,19).

 

Nun stellt sich allerdings die Frage, warum die Tora nicht einfach ausdrücklich vorschreibt, dass für die Blendung eine Geldentschädigung zu zahlen sei, etwa: "so bezahle er ihm für seine Hand oder für seine Verletzung"?! Dazu antwortete der "hohe Rabbi Löw" aus Prag (MaHaRaL), dies sei nicht [mit den üblichen Arten der Geldentschädigung] zu vergleichen; hat jemand das Haustier seines Nächsten getötet, befreit ihn die Zahlung der angemessenen Entschädigung von jeder Schuld. Hat er jedoch seinen Nächsten verletzt, so kommt er nicht mit einer Geldzahlung allein davon, sondern verdient eigentlich denselben Schaden; weil dies aber unmöglich ist, wird er nicht eher frei von Schuld, als bis er seinen Nächsten auch um Vergebung gebeten hat und dieser sie gewährt (Gur Arje).

 

Der gleiche Gedanke wird uns im Namen des Rabbi Elijahu (Gaon von Wilna) überliefert. In Wahrheit müsste der Schädiger das gleiche Körperteil verlieren, das er seinem Nächsten zerstört hatte, um zu zeigen, dass die Teile des menschlichen Körpers nicht nur nach Geldwert zu bemessen seien. Allerdings lässt die Tora hier Gnade walten. Nach dieser Erklärung wird ein bestimmter Abschnitt der oben erwähnten Talmudstelle verständlich. Dort heißt es: "Rabbi Elieser sagte: Auge um Auge – wörtlich!" Wundern sich die Weisen und fragen: "Wörtlich, wie ist dies denn möglich?!" Rav Aschi gibt die Antwort: "Vielmehr besagt dies, dass man nicht den Beschädigten, sondern den Schädiger schätze". Manchmal gibt es Unterschiede zwischen dem Wert des Auges des Schädigers und dem Wert des Auges des Beschädigten, und hier hat der Schädiger nach dem Wert seines Auges zu zahlen. Eigentlich hätte er dieses hergeben müssen, und die Zahlung dient sozusagen als Ablösesumme.

 

Eine weitere Erklärung erhalten wir von unserem Lehrer Rabbiner Zwi Jehuda Kuk: Die absolute göttliche Wahrheit der schriftlichen Tora offenbart sich in der mündlichen Überlieferung in milderer Form. Ein gutes Beispiel dafür finden wir im heiligen Sohar [Hauptwerk der Kabbala]: Der Vater holt zur Strafung des Nachwuchses mit dem Riemen aus, die Mutter aber ergreift im letzten Moment seine Hand und verhindert so die Schläge. In Wahrheit jedoch haben hier Vater und Mutter von Anfang an gemeinsame Sache gemacht. Der Vater wollte sowieso nur übertrieben drohen, und die Mutter, die seine Hand bremste, tat dies mit der Zustimmung des Vaters, d.h. G~ttes in seiner Gnade.

 

So verhält es sich auch bei unserem Thema. Unsere Weisen erklärten: "Vater – das ist der Heilige, gepriesen sei er, und Mutter – das ist die Gemeinschaft Israel" (Berachot 35b). In der schriftlichen Tora erscheint das Gesetz in seiner vollen Strenge, das durch die Gemeinschaft Israel in der mündlich überlieferten Lehre gemildert wird. Genau dadurch kommt der Wille des Vaters zur Ausführung, denn es war sein Wille, Furcht einzuflößen – und dann lässt er Gnade über alle seine Werke walten.

 

Die Frömmigkeit, Andere nicht zu schädigen

 

Am Ende unseres Wochenabschnittes werden im Verlaufe des göttlichen Klärungsprozesses bezüglich des G~tteslästerers verschiedene Gesetze von Geld- und Schädigungsangelegenheiten behandelt. "Wer den Namen des Ewigen in Lästerung ausspricht, soll getötet werden … Wenn einer irgendeinen Menschen erschlägt, soll er getötet werden … Wer ein Tier erschlägt, muss es bezahlen" (Lev. 24, 16-18). Was verbindet diese so unterschiedlichen Themen?

 

Ganz sicher begeht der Gotteslästerer ein schweres Vergehen und verdient entsprechende Bestrafung. Daneben gilt es sich zu vergegenwärtigen, dass auch die Verletzung eines Menschen ein schwerwiegendes Vergehen darstellt. Selbst die Schädigung des Eigentums des Nächsten ist eine sehr ernste Angelegenheit. Alles hat entsprechend seiner Rangstufe sein Für und Wider. Die Lästerung ist das Gegenteil der Hingabe zum Göttlichen, der Liebe zu G~tt, aber auch die Vermeidung der Schädigung des Nächsten ist eine nicht gering zu achtende Eigenschaft.

 

Das Christentum schätzte die rechtlichen Dinge gering. Sein Hauptakteur spottete dem Gesetz. Sie schrieben großartige Schlagworte der Frömmigkeit auf ihre Fahnen, ihr Herz jedoch galt nicht den kleinen, einfachen und doch so fundamentalen Regelungen der Beziehungen zwischen dem Menschen und seinem Nächsten.

 

Demgegenüber sagen wir, dass auch den Nächsten nicht zu schädigen zur Frömmigkeit gehört. Die talmudischen Weisen behandeln die Frage, wie man sich verhalten muss, um als Frommer zu gelten, und geben drei Antworten: "Rabbi Jehuda sagte: Wer ein Frommer sein will, halte die Gesetze von den Schädigungen. Rava sagte: Die Vorschriften [des Traktates Sprüche] der Väter. Manche sagen, die Vorschriften [des Traktates] von den Segenssprüchen" (Baba Kama 30a). Der MaHaRaL ["Der Hohe Rabbi Löw" von Prag, Löwe Jehuda ben Bezalel, lebte vor etwa 400 Jahren] teilte die genannten Fälle in drei Kategorien: 1) Frömmigkeit zwischen Mensch und G~tt – Segenssprüche, 2) Frömmigkeit in der Festigung des eigenen Charakters – "Sprüche der Väter", 3) Frömmigkeit in den zwischenmenschlichen Beziehungen – Gesetze der Schädigungen (aus dem Vorwort zu "Derech Chajim"). Der Talmud führt weitere Beispiele für vorsichtiges Verhalten der Weisen als Vorbild an: "Die früheren Frommen pflegten ihre Dornen und ihre Scherben auf ihren Feldern zu verstecken; sie vergruben sie drei Handbreiten tief, damit sie dem Pflug nicht hinderlich seien. Rav Scheschet pflegte sie ins Feuer zu werfen; Rava pflegte sie in den Tigris zu werfen". Zwischenmenschliche Beziehungen ernst genommen!

 

Wer schädigt, muss zahlen. Der Mensch ist für seine Taten verantwortlich. So ist er geboren, frei und verantwortlich. Wenn er etwas zerstört, muss er es reparieren. Das ist keine Kleinlichkeit, sondern höchste Moralität – was du zerstörst, bringe wieder in Ordnung.

 

Rabbi Levi ben Gerschon [RaLbaG, "Gersonides", hervorragender Bibelerklärer, Philosoph, Mathematiker und Astronom, lebte vor ca. 700 Jahren in Südfrankreich] sah die Geschichte vom Gotteslästerer nicht als einen Ausnahmefall, sondern als Lehrbeispiel für eine allgemeine Regel, die uns mitteilt, dass alle Gebote den Menschen zur Aufrichtigkeit, dem Streben nach G~tt und zur Anhänglichkeit an G~tt erziehen sollen. Der Gotteslästerer verdient eine so schwere Strafe, weil sein Verhalten in vollständigem Gegensatz zum Bestreben aller Gebote steht.

 

Die Justiz der Tora ist keine einfache weltliche, praktische Rechtsprechung; und die Vorsicht, nicht zu schädigen, nicht nur eine nützliche gesellschaftliche Angelegenheit – sondern auch Ausdruck höchster G~ttverbundenheit.

 

Der Autor ist Oberrabbiner von Bet El und Leiter der Jeschiwa "Ateret Kohanim/Jeruschalajim" in der Altstadt von Jerusalem – übersetzt von R. Plaut Chefredakteur von KimiZion

 

 

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