Himmlisches Brot

Die Versorgung mit dem Himmelsbrot war eine erzieherische Maßnahme, die dem Volk die göttliche Allmacht vor Augen führen sollte.

4 Min.

Rabbiner Israel Meir Levinger

gepostet auf 16.03.21

Weil das Volk G’tt als Versorger anerkennt, erhält es jeden Tag genügend Nahrung

 

Nach dem Auszug aus Ägypten beschäftigen sich die Israeliten auch mit den täglichen Problemen wie Arbeit, Hunger und Durst. Gerade erst durch die wundersame Spaltung des Schilfmeers vor den ägyptischen Verfolgern gerettet, beschwert sich das Volk in Mara bei Mosche, weil dort das Wasser aus den bitteren Quellen ungenießbar ist. Als es dem Volk an Wasser mangelt, beginnt es, an seiner Überlebensfähigkeit zu zweifeln. Angst greift um sich und droht, in eine Revolte umzuschlagen.

 

Nachdem G’tt in außergewöhnlichen Situationen große Wunder vollbracht hat, durch die das Volk ausweglos erscheinende Situationen überwinden konnte, tut es sich schwer, in den Belangen des Alltags auf G’tt zu vertrauen. Aber Er zerstreut die Zweifel: Mit einem Stück Holz lässt Er die Bitterquellen in Süßwasser verwandeln.

 

 

HUNGER

 

In der Wüste Zin fühlt sich das Volk vom Hunger bedroht und beginnt, sich noch heftiger aufzulehnen als in Mara. Nicht nur hat das Volk die Lektion aus Mara nicht gelernt, es geht sogar so weit, dass sich die Israeliten nach den Fleischtöpfen in Ägypten zurücksehnen. Dieses Schauspiel wirkt beunruhigend, überrascht aber nicht. Hunger und Existenznot können Menschen Dinge tun lassen, zu denen sie unter normalen Umständen nie fähig wären. G’tt schickt nun dem Volk täglich die Himmelsnahrung Man (Manna).

 

Im Text über das düstere Bild von unvorstellbarem Leid, das Mosche in furchterregenden Worten skizziert für den Fall, dass das Volk G’ttes Geboten nicht gehorchen wird, findet sich folgender Vers: »Dein Leben wird vor dir in Gefahr schweben, und du wirst dich Nacht und Tag fürchten, und du wirst nicht an dein Leben glauben« (5. Buch Mose 28,66).

 

Unsere Talmudgelehrten (Menachot 103b) interpretieren diesen Vers wie folgt: Die Versorgung mit Lebensmitteln wird nicht gesichert sein, und die Existenz wird in der Schwebe hängen. Aus diesem Vers werden drei Stufen der Sorge um den Lebensunterhalt abgeleitet: Die erste (»dein Leben wird vor dir in Gefahr schweben«) wird als Zwang beschrieben, Getreide einzukaufen. Der erworbene Vorrat wird zwar ein Jahr reichen, aber man sorgt sich bereits jetzt, was danach sein wird.

 

Die zweite Stufe bezieht sich auf den Satz »Du wirst dich Nacht und Tag fürchten« und beschränkt den Getreidevorrat auf eine Woche. In diesem Rahmen weiß der Betroffene nicht, was er nächste Woche essen wird.

 

Die letzte Stufe schildert der Talmud als Abhängigkeit vom Wohlwollen und der Lieferbereitschaft des Bäckers, von dem das fertige Brot täglich bezogen werden muss. Unsere Weisen leiten sie vom Versende ab: »Du wirst nicht an dein Leben glauben.« Der von der dritten Stufe Betroffene muss Tag und Nacht zittern, da er nicht weiß, was er morgen essen wird. Deshalb verliert er den Glauben an sein Leben.

 

Eine große Sorge, die heute viele Menschen plagt, ist das Bangen um den Arbeitsplatz. Kaum ein Tag vergeht, an dem wir nicht von Firmenfusionen im Sog der Globalisierung und der Wirtschaftskonzentration hören. Das härtere Klima im internationalen Wettbewerb, die wirtschaftlich angespannte Lage und der zunehmende Vormarsch der Automatisierung zwingen immer mehr Unternehmen, Arbeitsplätze abzubauen.

 

Wenn wir in Betracht ziehen, welchen psychologischen Einfluss die Sorge um den Arbeitsplatz auf unsere Gesellschaft ausübt, werden wir verstehen, was es bedeutet, auf das tägliche Man angewiesen zu sein. 40 Jahre wurde das jüdische Volk in der unwirtlichen Wüste von G’tt ernährt. Das Man fiel nur in der nötigen Menge. Für den folgenden Tag konnte kein Vorrat angelegt werden, da das gelagerte Man sofort verfaulte.

 

Die Sorge um die Existenz konnte also nicht durch die Sicherung von Nahrung befriedigt werden. Jeden Morgen, außer am Schabbat, mussten die Israeliten aufstehen, um ihre Portion Man zu erhalten. Sie waren Tag für Tag der g’ttlichen Fürsorge ausgeliefert. Die Situation der Israeliten erscheint also im Spiegel der im Talmud dargestellten härtesten dritten Stufe: Sie sind auf die tägliche Brotlieferung des Bäckers angewiesen.

 

Das Volk musste lernen, dass es das Problem der materiellen Existenz nicht aus eigener Kraft lösen konnte. Um mit seiner Situation zurechtzukommen, musste es einen tiefen Glauben entwickeln und G’tt vertrauen. Trotz der harten Sklavenarbeit, die die Israeliten in Ägypten verrichten mussten, konnten sie ihren Unterhalt selbst bestreiten. In diesem Licht kann man durchaus verstehen, dass sie sich nach den Fleischtöpfen Ägyptens zurücksehnten.

 

 

MIZWOT

 

Wie ein Arzt zeigte Gott Seinen »Patienten« Mittel und Wege, Krankheiten vorzubeugen, die die Ägypter heimsuchten. Als Mittel verschrieb Er ihnen die Tora und die Mizwot (2. Buch Mose 15,26).

 

Die Versorgung mit dem Himmelsbrot war eine erzieherische Maßnahme, die dem Volk die g’ttliche Allmacht vor Augen führen sollte, die auch in der Einöde der Wüste voll zum Tragen kam. Diese Lektion sollte ihre Wirkung in der ganzen Geschichte des jüdischen Volkes bis zum heutigen Tag entfalten.

 

Das Argument, die Befolgung der Gesetze der Tora würde dem Lebensunterhalt in die Quere kommen, wird durch den Segen des Mans entkräftet. Wenn das Volk G’tt als Heiler und Versorger anerkannte, wurde es ausreichend mit Nahrung versorgt. Wenn es die Tora und die Mizwot missachtete oder den Glauben in Mara und in der Wüste Zin verlor, wurde es von Hunger und Durst befallen.

 

Diese Betrachtungen können veranschaulicht werden durch die Geschichte einer zum Judentum übergetretenen Frau, die früher in Bnei Brak unsere Nachbarin war. Sie zeigte meiner Frau ein Kündigungsschreiben, das sie soeben erhalten hatte. Meine Frau tat einen erschrockenen Ausruf. Doch die Nachbarin entgegnete, dass kein Grund dazu bestehe, diesen Ausruf zu tun, da G’tt helfen und sich um jedes Bedürfnis kümmern werde. Das G’ttvertrauen dieser Frau blieb ungeachtet ihrer Sorgen unerschütterlich. Kurze Zeit später fand sie eine neue, bessere Arbeitsstelle.

 

 

Der Autor ist Rabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde München. Dieser Artikel erschien in der Jüdischen Allgemeinen.

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