Wohltätigkeit

Das Zedaka-Prinzip – Die Verantwortung für den Nächsten hat das jüdische Volk über Generationen zusammengehalten.

4 Min.

Rabbiner Shlomo Sajaz

gepostet auf 15.03.21

Das Zedaka-Prinzip – Die Verantwortung für den Nächsten hat das jüdische Volk über Generationen zusammengehalten.

 

So ziemlich jeder Jude kennt die kleine Büchse mit dem Schlitz, in den man Geld einwerfen kann. Sie ist auf der ganzen Welt in jeder Synagoge zu finden und heißt Zedaka-Büchse. »Zedaka« bedeutet wörtlich übersetzt »Wohltätigkeit«, es wird aber oft auch mit »Spende« übersetzt. Jeder Mensch gibt so viel, wie er kann. Bei dem einen sind es große Summen, bei einem anderen nur ein paar Cent. Die Höhe der Summe ist zweitrangig. An erster Stelle steht die Mizwa, die finanziellen Nöte anderer Menschen zu lindern und ihnen Freude zu bereiten.

 

Was viele nicht wissen, ist, dass diese kleine Büchse große Wirkung hat, und zwar nicht nur im materiellen Sinne.

 

 

AUFFORDERUNG

 

Den Ursprung des Begriffs Zedaka können wir unserem Wochenabschnitt Re’eh entnehmen. Die Tora sagt uns: »Wenn unter dir ein Bedürftiger sein wird, irgendeiner deiner Brüder, in einem deiner Tore, in deinem Land, das Er, dein G’tt, dir gibt, verfestige nicht dein Herz. Verschließe nicht deine Hand vor deinem bedürftigen Bruder. Nein, öffnen sollst du – öffne du ihm deine Hand! Leihen sollst du – leihe du ihm genug, woran es ihm mangelt« (5. Buch Mose 15, 7–8).

 

Mit diesen Worten fordert uns die Tora dazu auf, armen und bedürftigen Menschen zu helfen und ihnen das zu geben, was sie brauchen.

 

König Schlomo spricht im biblischen Buch Mischlei davon, wie sich die Mizwa der Zedaka auf den Menschen auswirkt. Schlomo spricht über denjenigen, der das Geld gibt. So steht in Mischlei 10,2 geschrieben: »Zedaka bewahrt vor dem Tod.« Ähnliches kommt in der Liturgie von Rosch Haschana vor: »Teschuwa, die Besinnung und Rückkehr auf den richtigen Weg G’ttes, das Gebet und Zedaka wenden das böse Verhängnis ab.«

 

Lassen Sie uns über diese drei Dinge nachdenken, die ein negatives Urteil abwenden: Teschuwa, Gebet und Zedaka. Es ist klar, warum Teschuwa vom negativen Urteilsspruch befreit, denn unsere Weisen haben uns gelehrt: Sobald man Teschuwa tut und sich besinnt, werden alle Sünden in Verdienste umgewandelt. Es ist auch offensichtlich, warum das Gebet vom himmlischen Urteil befreit. Schließlich kann man das Gebet nutzen, um die Barmherzigkeit G’ttes zu wecken.

 

 

GEBOT

 

Was jedoch auf den ersten Blick unklar erscheint, ist, warum die Zedaka denselben Effekt haben soll. Ist das Gebot der Zedaka denn kein Gebot wie viele andere eben auch? Eine Antwort auf diese Frage finden wir im Talmud (Awoda Sara 4b). Der Talmud diskutiert dort einen Widerspruch zwischen zwei Versen aus den Propheten. Einerseits heißt es in den Psalmen: »G’tt ist ein gerechter Richter und ein G’tt, der täglich zürnt« (7,12). Andererseits heißt es bei dem Propheten Nachum: »Wer kann bestehen vor seinem Groll? Wer hält an bei der Glut seines Zorns? Sein Grimm ergießt sich wie Feuer, und die Felsen geraten vor ihm in Brand« (Nachum 1, 6).

 

Der Talmud erklärt: Wenn ein Mensch allein ist, dann sagt der Vers über ihn: »Wer kann bestehen vor seinem Groll?« Wenn aber der Mensch Teil einer Gemeinschaft ist oder ein Teil eines Volkes, dann sagt der Vers in Psalmen, dass G’tt »täglich zürnt«, und trotzdem besteht der Mensch. Der Talmud lehrt uns hier eine wichtige Lektion: Wenn wir Teil einer Gemeinde sind und G’tt sich über uns erzürnt, bleiben wir dennoch bestehen.

 

Und genau hier spielt Zedaka eine wichtige Rolle. Denn durch die Zedaka, durch das Spenden, werden wir zu einer Gemeinschaft. Wenn ein Mensch hier in Deutschland für Bedürftige in Israel spendet, dann setzt er ein Zeichen, dass er auch zum jüdischen Volk gehört, sich um die anderen Juden auf der Welt sorgt und ihnen helfen möchte.

 

Einen ähnlichen Gedanken finden wir auch beim Gebet. Die Halacha, das jüdische Gesetz, verlangt, dass im Idealfall ein Mann die drei täglichen Gebete Schacharit, Mincha und Maariw in einem Minjan, einem Quorum von zehn Männern, beten soll. Der Grund dafür wird in der Kabbala erklärt. Beim Gebet einer einzelnen Person beurteilt G’tt das Gebet an sich sowie die Person, die das Gebet spricht. In Hinsicht auf das Gebet, das mit einem Minjan gesagt wird, verspricht uns G’tt, dieses immer zu empfangen, ohne es zu werten.

 

 

BEFREIUNG

 

Und genau dieses Prinzip hat unseren Vorvätern dabei geholfen, sich aus der Sklaverei in Ägypten zu befreien. Der Midrasch erzählt uns Folgendes: Als sich die Lage der Juden in Ägypten verschlechterte und sie immer mehr arbeiten und leiden mussten, hat sich das ganze jüdische Volk versammelt und einen Bund geschlossen.

 

In diesem Bund haben sie sich gegenseitig versprochen, immer einander zu helfen, unabhängig davon, wie schwer es sein mag. Der Midrasch schließt damit, dass dieser Bund einer der Gründe war, warum G’tt das jüdische Volk aus Ägypten gerettet hat.

 

Ein schönes Beispiel dafür, was Wohltätigkeit bewirken kann, ist die Lebensgeschichte von Baron Edmond James de Rothschild (1845–1934). Man schätzt, dass er ungefähr 50 Millionen Dollar dafür ausgab, um 25.000 Hektar Agrarland zu erwerben. Später übergab er das Land den ersten jüdischen Siedlern. Die gründeten dort die Städte Rischon LeZion und Zichron Jakow, die bis heute existieren.

 

Wir sehen also: Das Prinzip von Zedaka, Spenden und Wohltätigkeit, war in der jüdischen Geschichte schon immer von großer Bedeutung. Dieses Prinzip hat das jüdische Volk als Gemeinschaft und als Volk zusammengehalten und gerettet.

 

 

Der Autor ist Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD). Dieser Artikel erschien in der Jüdischen Allgemeinen.

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