Vorschule
„Wann findet eigentlich deine Hochzeit statt?“, fragte ich einen angehenden Bräutigam. „In 16 Tagen, zwei Stunden und 38 Minuten“ kam prompt die Antwort.
WARUM ZWISCHEN DER BEFREIUNG AUS DER SKLAVEREI UND DEM EMPFANG DER TORA SIEBEN WOCHEN LIEGEN
„Wann findet eigentlich deine Hochzeit statt?“, fragte ich einst einen meiner Freunde in der Jeschiwa, einen angehenden Bräutigam.
„In 16 Tagen, zwei Stunden und 38 Minuten“ kam prompt die Antwort.
So genau wollte ich es gar nicht wissen, aber es zeigte mir wieder ein Phänomen, das wir schon als Kinder kennenlernen: Auf großartige Ereignisse freut man sich nicht nur, man erwartet sie oft mit einer solchen Ungeduld, dass man die Tage und Stunden bis dahin zählt, in der Hoffnung, sie mögen dadurch etwas schneller vergehen (wobei damit oft das Gegenteil bewirkt wird, was aber weiter nicht schlimm ist, da Vorfreude bekanntlich zu den schönsten Freuden gehört).
Welches Kind etwa zählt nicht die Tage bis zu seinem Geburtstag? Nun, wir können es nicht leugnen: Etwas von dieser Kindhaftigkeit ist über die Jahre in uns geblieben, und wir erfreuen uns an ihr. Auch einem Erwachsenen bereitet es nach wie vor große Freude, die Tage bis zu einem für ihn wichtigen, gar lebensverändernden positiven Ereignis zu zählen.
So kindlich allein kann das gar nicht sein, denn selbst die Tora weist uns in unserem Wochenabschnitt an, Tage und Wochen zu zählen: „Von dem Tage aber nach dem Feste, von dem Tage, da ihr das Omer der Schwingung dargebracht, sollt ihr zählen; sieben volle Wochen sollen es sein. Bis zu dem Tage nach der siebenten Woche sollt ihr fünfzig Tage zählen und dann ein neues Speiseopfer dem Ewigen darbringen“ (3. Buch Moses 23, 15-16).
Wer mit jüdischen Traditionen vertraut ist, erkennt in diesen Sätzen das sogenannte Omer-Zählen wieder. Man muss jedoch genau hinschauen. Denn mit knappen Worten wird hier nur wenig erklärt, und viele Fragen kommen auf: Von welchem Fest an wird gezählt? Und auf welches Ereignis hin? Und wie zählt man? Zählt man Tage oder Wochen? Und wieso soll diese Zeit gezählt werden?
Fragen über Fragen. Beginnen wir mit den ersten zwei: Von wann bis wann wird Omer gezählt? Obwohl in den Angaben der Tora nicht offensichtlich, legt der Talmud doch klar fest (Menachot 65a-66a): Vom zweiten Tag Pessach an bis Schawuot, dem Wochenfest. Und so wird es in der jüdischen Tradition auch praktiziert. Mit dem Pessachfest feiern wir die Befreiung des jüdischen Volkes aus Ägypten. Doch würde diese Freiheit jeglichen Inhalts entbehren, wäre sie nicht mit dem kommenden Ereignis verbunden, welches wir an Schawuot feiern: der Offenbarung Gottes am Berg Sinai und die Übergabe der Tora!
Diese zwei Ereignisse – der Auszug aus Ägypten und die Verkündung der Zehn Gebote am Berg Sinai – sind so sehr miteinander verbunden, dass das Schawuot-Fest in der Tora nicht einmal ein eigenes Datum erhält! Sieben Wochen nach dem (Pessach-)Fest soll es stattfinden, weswegen es „Schawuot“, „das Wochenfest“, genannt wird (5. Buch Moses 16, 9-10). Das fehlende Datum führt sogar zu einer Streitfrage im Talmud, an welchem Datum die Zehn Gebote gegeben wurden, ob am 6. oder am 7. Siwan (Schabbat, 86b).
Freiheit braucht Identität, Freiheit braucht ein Gefühl der Verantwortung. Im Hebräischen unterscheiden sich die Worte für Freiheit – „chejrut“ – und für Verantwortung – „achrajut“ – nur durch den Buchstaben Aleph. Nur der Eine und Einzige, Gott, für den das Aleph steht, kann uns diese historische Verantwortung übertragen, die besonderste aller Aufgaben: der Menschheit die Ethik und Moral der Tora zu überbringen. So sehr erfüllt uns diese erhabene Aufgabe, und so sehr definiert sie das erklärte Ziel unserer Befreiung aus Ägypten, dass sich Rabbi Jehoschua ben Levi in den Sprüchen der Väter sogar zu folgender Aussage hinreißen lässt (6, 2): „Es gibt keinen Freien außer demjenigen, der sich mit dem Erforschen der Tora beschäftigt.“
So verwundert es denn auch nicht, dass gerade hier die Tora uns anweist, die Zeit dazwischen zu zählen. Doch nicht nur ungeduldige Erwartung des großen Ereignisses kommt damit zum Ausdruck. Vielmehr handelt es sich dabei um einen Plan. Denn als das jüdische Volk aus Ägypten befreit wurde, war es geistig weit davon entfernt, die Tora empfangen zu können. Dazu bedurfte es zuerst einer Zeit intensiver Vorbereitungen, eines Intensivkurses in Sachen Göttlicher Geistigkeit, in dem ethische Reinigung durch Annäherung an den einen Gott anstelle der über Jahrhunderte erfahrenen ägyptischen Götzendienstkultur treten sollte. Doch ein so gewaltiger Geistessprung, heute würde man es wohl Kulturschock nennen, muss sorgfältig geplant werden, damit er erfolgreich verläuft und Bestand haben wird. Diese Planung kommt in der Zählung der Zeit zum Ausdruck.
Beim Omer-Zählen zählen wir einerseits die Tage zwischen Pessach und Schawuot, andererseits auch die Wochen, wie der Talmud es festlegt (Chagiga 17b). Es existiert jedoch ein grundlegender Unterschied in der Art, wie man die Tage und wie man die Wochen zählt: Die Tage der Omer-Zeit sollen möglichst schon zu ihrem Beginn, sobald am Vorabend die Nacht einsetzt, gezählt werden. Demgegenüber zählt man die Wochen erst dann, wenn sie bereits vollendet sind. Hier verbirgt sich ein Hinweis darauf, wie man es schafft, große Ziele zu erreichen, ohne an den Schwierigkeiten unterwegs zu zerbrechen oder zu verzweifeln. Zuerst müssen kurze Etappen geschaffen werden, die man in kleinen Schritten relativ leicht bewältigen kann.
So teilen wir den großen Niveau-Unterschied, den wir zwischen Pessach und Schawuot zurücklegen wollen, in 49 Tagesportionen auf und konzentrieren uns zu Beginn eines jeden Tages auf die nächste kleine Etappe. Dabei darf das große Endziel aber nicht vollkommen außer Acht gelassen werden! Denn sonst könnte man orientierungslos auf der Strecke bleiben. Alle sieben Tage sollte man daher einen Blick zurück wagen, um aus dem Erreichten Kraft und Motivation für das Kommende zu schöpfen, und um zu prüfen, ob man sich auf dem rechten Weg zum gesetzten Ziel befinde. Mit dieser Zwischenetappe kann man dann guten Mutes die nächsten Schritte angehen und so Stück für Stück das Unmögliche möglich machen und wahre Größe anstreben – „und Du (Gott) lässt ihn (den Menschen) Gott um ein Geringes nachstehen, und mit Ehre und Glanz krönst Du ihn“ (Psalmen 8, 6).
Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Aachen und Mitglied der ORD.
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