Ein Land kommt zum Stillstand

Jüdischer Feiertag Jom Kippur: Die stummen Stunden Israels. Nach Sonnenuntergang fährt kein Auto, landet kein Flugzeug, schließen sämtliche Cafés ...

3 Min.

Ulrike Putz

gepostet auf 17.03.21

Jüdischer Feiertag Jom Kippur: Die stummen Stunden Israels
 

Nach Sonnenuntergang fährt kein Auto, landet kein Flugzeug, schließen sämtliche Cafés: Jom Kippur ist der höchste Feiertag des Judentums. Doch das Fest der Reue und Versöhnung hat nicht nur religiöse Bedeutung – in den stummen Stunden Israels werden die Gegensätze des Landes am deutlichsten.
 

Tel Aviv – Jehuda legt dem Mann die Hand auf die Stirn, fasst das Huhn fester an den zusammengeschnürten Beinen und legt los: "Dies ist mein Ersatz, dies ist meine Abbitte", murmelt er, während er das gackernde und flatternde Tier über den Kopf des mit geschlossenen Augen Lauschenden kreisen lässt. "Dieses Huhn wird sterben, während ich weitergehen werde, in ein gutes Leben, in Frieden."

Jehuda setzt das Huhn in seinen Korb zurück, nimmt dem Mann die Hand von der Stirn und dessen Geld entgegen. 20 Schekel, umgerechnet fünf Euro zahlt der Mann. "Ich zahle gern", sagt er. "Jetzt sind mir meine Sünden des vergangenen Jahres vergeben."

Kaparot nennt sich der Brauch, den Jehuda am Mittwochmittag im Tel Aviver Vorort Bnei Brak praktiziert.

Das Huhn wird den Tag nicht überleben: Beladen mit den Sünden vieler Reumütiger wird es in wenigen Stunden geschlachtet werden – die Vergehen der Menschen sind damit getilgt. Der Ritus, den vor allem streng gläubige Juden vor dem jüdischen Versöhnungstag Jom Kippur vollziehen, erinnert daran, dass sündige Menschen ihr Lebensrecht verwirkt haben. Nach der Überlieferung richtet Gott an Jom Kippur über sie, nur wer Abbitte leistet, darf weiter leben.

25 Stunden lang kein Radio, Fernsehen, Essen

Jehuda hat sich eine wenig beschauliche Ecke ausgesucht, um das Jahrtausende alte, symbolhafte Ritual zu vollziehen. Er steht an einer lärmenden Straßenecke, hinter ihm bereiten sich die Gemüsehändler des lokalen Wochenmarkts darauf vor, ihre Stände zu schließen.

Schwer beladen mit Einkaufstüten hasten die Menschen nach Hause: Bei Sonnenuntergang beginnt der Jom Kippur, und das Leben in Israel wird dann völlig zum Erliegen gekommen sein. 25 Stunden lang stellen Fernsehsender und Radiostationen den Betrieb ein. Sämtliche Cafés und Tankstellen schließen. Einen ganzen Tag landen oder starten keine Flugzeuge, fährt kein Auto auf Israels Straßen. Säkulare Israelis nennen den Versöhnungstag deshalb auch "Fest der Fahrräder": Tausende Radler machen sich Jahr für Jahr einen Spaß daraus, auf der Stadtautobahn von Tel Aviv ihre Runden zu ziehen.

Jom Kippur ist der höchste religiöse Feiertag des Judentums, aber für Israel ist er auch ein Symbol. Es ist der Tag des Jahres, an dem sich der Spagat, den Israel seit seiner Gründung zu halten versteht, am deutlichsten zeigt: Den zwischen einer Jahrtausendealten Tradition und modernsten Lebenswelten.

Der israelische Staat bewahrt das eine und fördert das andere, Altes und Neues geben sich gegenseitig Raum. Sechs Tage die Woche erwirtschaftet Israel einen Wirtschafts-Boom, der seit Jahren anhält – am jüdischen Feier- und Ruhetag Sabbat jedoch gilt strengstes religiöse Gesetz.

Der Kern von Jom Kippur ist das Gebet und das rituelle Fasten. 63 Prozent der Israelis gaben in der vergangenen Woche in einer Umfrage an, dieses Jahr 25 Stunden lang weder Essen noch Trinken zu wollen. Orthodoxe Juden hingegen drücken durch ihre Kleidung aus, dass der heiligste Tag des Jahres begangen wird. Sie kleiden sich weiß, in der Farbe der Reinheit von Sünden.

"Es ist schon ein bisschen hysterisch"

Gläubige verbringen den ganzen Tag in der Synagoge, weniger Gläubige schauen nur kurz herein. "Aber das ist schnell gemacht, und danach sitzt man zu Hause und langweilt sich", sagt Eitan, der in der Tel Aviver Videothek "Das dritte Ohr" arbeitet. Dutzende Kunden drängen sich an seiner Kasse. "Die meisten leihen fünf bis sieben Filme aus, nur weil mal einen Tag das Fernsehen abgeschaltet ist", sagt Eitan. "Es ist schon ein bisschen hysterisch."

Jom Kippur wurde in diesem Jahr mit besonderer Spannung erwartet: 35 Jahre ist es her, dass Syrien und Ägypten den feiertäglichen Stillstand in Israel nutzten, um den gemeinsamen Feind anzugreifen. In den ersten 48 Stunden des Jom-Kippur-Krieges im Oktober 1973 sah es kurzzeitig so aus, als ob Israel dem Untergang geweiht sei, da die meisten Soldaten wegen des Feiertags auf Heimaturlaub waren.

Die deshalb aufgeworfenen Fragen zur Kompetenz der damaligen israelischen Führung können wohl erst jetzt beantwortet werden – am heutigen Mittwoch wurden Dokumente über den Kriegsverlauf freigegeben.

Viel Zeit, die Papiere gründlich zu sichten, bevor der Feiertag einsetzte, blieb nicht. Doch klar ist, dass Israel hätte gewarnt sein müssen. Der eigene Geheimdienst und arabische Spione hatten damals vergeblich versucht, Jerusalem vor einer akuten Kriegsgefahr zu warnen. Verstrickt in einen internen Zwist nahm aber weder die militärische noch die politische Führung die Hinweise ernst genug.

2700 Israelis starben im Jom-Kippur-Krieg

Ob der Tod vieler der 2700 umgekommenen Israelis verhindert hätte werden können, wird nach Ende des Feiertags Gegenstand heftiger Debatten sein. Der 61-jährige Jihon Tzodok wird sie nicht lesen, will ihnen nicht zuhören. "Das reißt für mich nur die Wunden wieder auf."

Tzodok steht auf dem Militär-Friedhof von Kiryat Schaul nördlich von Tel Aviv. Hier liegen die meisten der Gefallenen des Jom-Kippur-Krieges. 23 Tote hat Tzodok heute schon besucht, fünf Gräber möchte er noch sehen, bevor der Versöhnungstag beginnt. Es sind Kameraden, Freunde, ein paar entfernte Verwandte, deren Gräber er jedes Jahr um diese Zeit besucht. "Wir haben im selben Krieg gekämpft, sie haben ihn verloren", sagt der ehemalige Soldat.

Er selbst hatte Glück: Bei einem Fliegerangriff auf Abu Rodeis auf der Sinai-Halbinsel lag er mit dem Gesicht im Dreck, wartete nur darauf, dass eine Bombe in die riesigen Tanks des Ölfeldes fliegt, erzählt er. "Dann wäre ich nicht nur getötet, sondern auch gegrillt worden wie ein Steak."

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