Das geht ins Geld
Welche Folgen es haben kann, seinen Nächsten zu beschämen - Eine rabbinische Erzählung zu den zehn Tagen der Umkehr ...
WELCHE FOLGEN ES HABEN KANN, SEINEN NÄCHSTEN ZU BESCHÄMEN – EINE RABBINISCHE ERZÄHLUNG ZU DEN ZEHN TAGEN DER UMKEHR
Die zehn Bußtage, also die Zeit zwischen dem Neujahrsfest und Jom Kippur, zeichnen sich durch besondere Frömmigkeit und G’ttesfurcht aus. Denn es ist die letzte Möglichkeit, das an Rosch Haschana gefällte Urteil noch positiv beeinflussen zu können. Zudem ist dies auch die Zeit der Vorbereitung auf den heiligsten Tag des Jahres, an dem wir Engeln gleich vor G’tt stehen werden.
Auch in der halachischen Literatur wird darauf hingewiesen, dass man in diesen Tagen mehr auf eigene Taten achten, längere Zeit als sonst mit Gebeten und Psalmen verbringen, und sich auch mehr den anderen Geboten widmen soll, als man es sonst tut. Doch leider konzentrieren sich viele dabei nur auf die Gebote zwischen Mensch und G’tt, und vergessen dabei die zwischenmenschlichen Beziehungen, die nicht weniger wichtig sind. Somit werden die zusätzlichen religiösen Anstrengungen auch kein wirkliches Resultat bringen. Die folgende Geschichte soll dies verdeutlichen. Sie gehört zu den Erzählungen des Rabbiners Scholom Schwadron, der auch als Jerusalemer Maggid bekannt war.
ARMUT
In der ukrainischen Stadt Zhitomir lebte ein Mann namens Hirsch Ber. Seine Geschäfte waren nicht sonderlich erfolgreich, alle seine Versuche etwas Neues anzufangen, gingen immer daneben. Demzufolge war er ziemlich arm, er wurde von den Menschen aus der Gemeinde nicht sonderlich respektiert und sogar seine eigene Frau erlaubte sich hin und wieder ihn zu verspotten.
Es war kurz vor Jom Kippur, als alle jüdischen Familien der Stadt gerade die Seudah Hamafseket, die letzte große Mahlzeit vor dem Fastenbeginn, einnahmen. Doch Hirsch Ber kam wieder mit leeren Händen nach Hause, worauf seine Frau sehr ungehalten reagierte, und ihn sogar der Tür verwies, ohne ihm noch eine Kleinigkeit zum Essen zu geben. Die Suppenküche der Gemeinde war schon geschlossen, und es wurde Hirsch Ber klar, dass er sich dem Fasttag hingeben musste, ohne etwas Vernünftiges im Magen zu haben.
Er ging also in die Synagoge, wo sich langsam die Gläubigen zum Abendgebet versammelten. Er nahm seinen Platz in der letzten Reihe ein und beobachtete betrübt, wie die anderen das Tfila Zaka (ein persönliches Gebet, das vor dem Abendgebet am Jom Kippur gesagt wird) sprachen. Stets in der Hoffnung, seinen Hunger zu vergessen.
Doch plötzlich bemerkte er zu seiner Freude Reb Boruch. Reb Boruch war einer der wohlhabenden Gemeindemitglieder und hatte immer eine Schachtel Schnupftabak dabei. Dieser Tabak könne ihm den Tag wenigstens ein bisschen versüßen, dachte sich Hirsch Ber. Langsam bewegte es sich daher von seinem Platz in der hintersten Reihe nach ganz vorn, wo die wichtigsten Gemeindemitglieder saßen. Er legte seine Hand auf Reb Boruchs Schulter und fragte verunsichert: »Reb Boruch, ein bisschen Tabak vielleicht?«. Der war empört, wer konnte nur so frech sein und ihn bei seinem Gebet stören? Als er sich umdrehte, sah er den kleinen, schmächtigen Hirsch Ber, den Schnorrer aus der letzten Reihe. Die ganze Synagoge hörte plötzlich seinen Schrei: »Hirsch Ber, doch nicht während der Tfila Zaka«. Beschämt, gekränkt und mit rotem Kopf begab sich Hirsch Ber zurück in die letzte Reihe und vertiefte sich weinend in sein Gebet: »Lieber G’tt, bin ich denn wirklich nichts wert, nicht mal ein bisschen Tabak?«. Sein Flehen wurde durch das himmlische Gericht erhört. Es wurde beschlossen, Reb Boruch wegen seines Verhaltens zu bestrafen. Er sollte im neuen Jahr sein ganzes Geld verlieren, und Hirsch Ber sollte ein reicher Mann werden.
REICHTUM
Bereits am Tag nach Jom Kippur kam ein wohlhabender Verwandter von Hirsch Ber nach Zhitomir und lieh ihm eine ziemlich große Summe. Der eröffnete einen Laden und war später damit recht erfolgreich. Dass versetzte ihn in die Lage, seine Schulden zu begleichen. Hirsch Ber wurde nach ein paar Monaten zu einem wohlhabenden Mann und einem angesehenen Gemeindemitglied. Hingegen liefen die Geschäfte von Reb Boruch immer schlechter. Und er verstand, dass es dafür, dass er plötzlich so erfolglos wurde, einen außergewöhnlichen Grund geben müsse.
RABBINISCHER RAT
So begab er sich zu Rav Levi Yitzchak von Berditschew, um ihn nach seinem Rat zu fragen. Der versuchte, die Taten von Reb Boruch zu analysieren, konnte jedoch nichts finden, was so eine hohe Bestrafung rechtfertigen würde. Ganz nebenbei bemerkte Reb Boruch, dass sich parallel zu seinen finanziellen Abstieg die Geschäfte von Hirsch Ber so prächtig entwickelt hätten. Rav Levi Yitzchak fragte, ob er an sich an irgendein Ereignis erinnern könnte, das sie gemeinsam betraf. Dann berichtete Reb Boruch von der in seinen Augen so unbedeutende Geschichte aus der Synagoge. »Das ist es«, rief Rav Levi Yitzchak. »Du hast deinen Nächsten beschämt, das hat deinen wirtschaftlichen Niedergang bewirkt!«. Reb Boruch fragte sofort, was er dagegen tun könne. Rav Levi Yitzchak erwiderte, dass es nur eine Möglichkeit gäbe, nämlich den mittlerweile vermögenden Hirsch Ber nach etwas Tabak zu fragen, und vor allem von ihm eine Absage zu bekommen. Erst dann könnte Reb Boruch einen Anspruch gegenüber G’tt haben, alles wieder rückgängig zu machen.
Unterdessen vergingen die Jahre, und die meisten vergaßen, wie einflussreich Reb Boruch einst gewesen ist. Jetzt war er es, der in Armut lebte. Hirsch Ber hingegen zählte mittlerweile zu den angesehensten Mitgliedern der Gemeinde. Als seine Tochter in das entsprechende Alter kam, bekam die Familie einen Heiratsantrag des Sohnes des Rabbiners der Stadt Zhitomir. Er fand Zustimmung und bald darauf sollte die größte Hochzeit stattfinden, die die Stadt Zhitomir jemals erlebt hat. Alle Juden der Stadt wurden dazu eingeladen. Das war genau die Möglichkeit, auf die Reb Boruch so lange gewartet hat.
VERSUCH
Die Hochzeitszeremonie begann, Hirsch Ber stand unter dem Hochzeitsbaldachin und war gerade dabei, dem Rabbiner die Ketuba (Heiratsvertrag) zu überreichen, als er plötzlich eine Hand auf seiner Schulter spürte. Er hörte eine leise Stimme: »Hirsch Ber, ein bisschen Tabak vielleicht?« Hirsch Ber drehte sich um und sah Reb Boruch, der nur darauf wartete beschämt zu werden. Doch Hirsch Ber lächelte, steckte die Ketuba zurück in die Tasche, holte seinen Tabak raus und sagte: »Selbstverständlich, Reb Boruch, jederzeit! « Es war wie ein Schlag, der Reb Boruch direkt ins Herz traf. Ihm wurde schwindlig und er fiel direkt unter der Chuppa in Ohnmacht.
Als er wieder zu sich kam, erklärte Reb Boruch dem Hirsch Ber die ganze Geschichte und sie entschlossen sich, am nächsten Tag wieder Reb Levi Yitzchak von Berditschew aufzusuchen. Der fragte Hirsch Ber, ob er bereit wäre, ein Teil seines Reichtums an Reb Boruch zu geben. Denn mittlerweile war allen klar, dass er den Wohlstand Reb Boruch zu verdanken hatte. So war er einverstanden, gab ihm die Hälfte seines Geldes, und beide lebten bis zum Ende ihrer Tage als große Unterstützer der Gemeinde und der Armen von Zhitomir. Soweit die Geschichte, die kurz vor Jom Kippur deutlich macht, wie wichtig es ist, auf die Gefühle unserer Mitmenschen zu achten und sie keinesfalls zu beschämen.
Gmar Chatima towa.
Der Autor ist Rabbiner an der Jüdischen Gemeinde zu Freiburg und Mitglied bei der ORD.
Sagen Sie uns Ihre Meinung!
Danke fuer Ihre Antwort!
Ihr Kommentar wird nach der Genehmigung veroeffentlicht.