Frömmigkeit und Lebensklugheit
Was können wir von Abba Chilkia und seiner Gattin lernen?
Als der Talmud (Makkot 24a) ein Beispiel für einen Menschen bringen wollte, der sich durch Rechtschaffenheit auszeichnet (hebr.: Poel Zedek), nannte er den Namen Abba Chilkia. Wer mehr über Tun und Lassen dieses frommen Mannes, der vor ungefähr zweitausend Jahren lebte, erfahren will, sollte folgende Geschichte näher betrachten, die im Traktat Taanit (23 a und b) steht.
„Abba Chilkia war ein Enkel von Choni Hame`agel (dem Kreiszeichner).Wenn er zum Himmel flehte, fiel Regen auf die Erde. Einst bedurfte die Welt des Regens, und die Weisen sandten zu ihm ein Paar Jünger, auf dass er um Regen flehe. Diese gingen zu ihm nach Hause, trafen ihn aber nicht an; hierauf gingen sie aufs Feld und fanden ihn dort beim Graben. Sie grüßten ihn, er aber wandte ihnen sein Gesicht nicht zu. Als er abends Holz nach Hause trug, nahm er Holz und Schaufel auf die eine Schulter und das Gewand auf die andere Schulter. Auf dem ganzen Wege trug er keine Schuhe; wenn er aber an ein Gewässer herankam, zog er Schuhe an, und wenn er an Dornen und Disteln herankam, hob er seine Kleider hoch.“
„Als er die Stadt erreichte, kam ihm seine Frau geschmückt entgegen. Als er an sein Haus kam, trat seine Frau zuerst ein, danach er und zum Schluß traten die Jünger ein. Hierauf setzte er sich zum Essen, lud aber die Jünger nicht ein, mit ihm zu speisen. Alsdann verteilte er die Speisen an die Kinder; dem Älteren gab er eine und dem Jüngeren zwei. Hierauf sprach er zu seiner Frau: Ich weiss, dass die Jünger wegen des Regens gekommen sind; gehen wir auf den Söller und flehen um Erbarmen. Wenn der Heilige, gepriesen sei Er, vielleicht gnädig ist und Regen kommt, so soll man dies nicht uns zugute halten. Daraufhin stiegen sie auf den Söller; er stellte sich in die eine Ecke zum Beten und sie sich in die andere, und die Wolken kamen zuerst von der Seite der Frau. Als er herunterkam fragte Abba Chilkia sie: Weswegen sind die Rabbanan hergekommen? Sie erwiderten: Unsere Weisen schickten uns zum Meister, dass er um Regen flehe. Dieser erwiderte: Gepriesen sei Gott, dass ihr des Abba Chilkia nicht mehr bedürft. Darauf sprachen sie zu ihm: Wir wissen jedoch, dass der Regen wegen des Meisters gekommen ist.“
Die Besucher nutzten die Gelegenheit, und stellten Abba Chilkia eine Reihe von Fragen, die der Meister bereitwillig beantwortete: „Erkläre uns bitte all dein Tun, das uns aufgefallen ist. Weshalb wandte uns der Meister das Gesicht nicht zu, als wir ihn grüßten? Abba Chilkia erwiderte: Ich bin Tagelöhner und durfte die Arbeit nicht unterbrechen. – Weshalb trug der Meister das Holz auf der einen Schulter und das Gewand auf der anderen Schulter? Abba Chilkia erwiderte: Es ist ein geborgtes Gewand, und ich habe es nur zum Tragen geborgt, nicht aber zu etwas anderem. – Weshalb trug der Meister auf dem ganzen Wege keine Schuhe, wohl aber, wenn er an ein Gewässer herankam? Abba Chilkia erwiderte: Den ganzen Weg sehe ich; was im Wasser ist, sehe ich jedoch nicht. – Weshalb trug der Meister seine Kleider hoch, wenn er an Dornen und Disteln herankam? Abba Chilkia erwiderte: Der Körper heilt, die Kleider nicht. – Weshalb kam dem Meister seine Frau geschmückt entgegen, als er die Stadt erreichte? Abba Chilkia erwiderte: Damit ich mein Auge nicht auf eine andere Frau werfe. – Weshalb trat sie zuerst ein, nach ihr erst der Meister und zuletzt wir? Dieser erwiderte: Weil ich Euch nicht kenne. – Weshalb lud uns der Meister nicht ein, mit ihm zu speisen, als er sich zu Tisch setzte? Weil die Mahlzeit nicht gereicht haben würde, und ich wollte keinen Dank umsonst haben. – Weshalb gab der Meister dem älteren Knaben ein Brot und dem jüngeren zwei? Abba Chilkia erwiderte: Dieser bleibt zu Hause, jener aber weilt im Lehrhaus. – Weshalb stiegen die Wolken zuerst auf der Seite auf, wo die Frau des Meisters stand, und nachher erst auf der Seite des Meisters? Weil die Frau stets zuhause ist und den Armen Brot gibt, das sie unmittelbar genießen können, während ich Geld gebe, das sie nicht unmittelbar geniessen können. Vielleicht auch aus folgendem Grunde: In unserer Nachbarschaft wohnten Frevler; ich bat, dass sie sterben mögen; sie bat, dass sie Buße tun mögen.“
Aus der Fülle der im talmudischen Text angeschnittenen Fragen möchte ich hier lediglich auf drei Punkte kurz eingehen, die mir praxisrelevant erscheinen. Warum hat Abba Chilkia nicht höflich geantwortet, als die Jünger ihn auf dem Feld ansprachen? Der Meister erklärte ihnen später, als Tagelöhner habe er seine Arbeit nicht unterbrechen dürfen. Abba Chilkias Arbeitsmoral mag uns als übertrieben streng erscheinen: Welcher Arbeitgeber wird etwas dagegen haben, wenn sein Angestellter einen Gruß erwidert? Andererseits wissen wir, wie schnell jemand, ohne dass er dies überhaupt will, in ein längeres Gespräch verwickelt wird. Abba Chilkias Verhalten macht uns jedenfalls darauf aufmerksam, dass ein Arbeitnehmer stets die Interessen des Arbeitgebers zu wahren hat. Um nur zwei Beispiele aus dem heutigen Bürobetrieb zu erwähnen: Darf man während der Arbeitszeit Telefongespräche führen, die nicht mit dem bezahlten Job zusammenhängen? Zweitens: Ist es erlaubt, private e-mails zu checken? Bemerkenswert ist, dass Rabbiner Mosche Chaim Luzzatto in seinem klassischen Werk „Der Pfad der Gerechten (Kap. 11) das Beispiel von Abba Chilkia anführt, um vor Diebstahl von Arbeitszeit zu warnen.
Hervorzuheben ist das Zusammenspiel von Abba Chilkia und seiner Ehefrau; man kann diese Partnerschaft als vorbildlich bezeichnen. Auf seine Initiative hin beteten beide Ehepartner gleichzeitig um Regen.
Für die Tatsache, dass die Wolken zuerst von der Seite seiner Frau kamen, wußte Abba Chilkia sogar zwei Gründe anzugeben. Er stellte neidlos fest, dass in Bezug auf die Frevler, die in der Nachbarschaft wohnten, die Verhaltensweise seiner Frau in den Augen des Ewigen offensichtlich wohlgefälliger war als sein eigenes Vorgehen.
Die neugierigen Jünger wollten wissen: Weshalb kam dem Meister seine Ehefrau geschmückt entgegen? Abba Chilkias Antwort lautete: Damit ich mein Auge nicht auf eine andere Frau werfe. Diese kurze Episode zeigt uns eine besondere Form der Fürsorge, die lebensklug und nachahmenswert ist. Eine Ehefrau macht sich für ihren Mann schön und geht ihm entgegen. Er seinerseits weiß ihre Bemühungen zu würdigen: Beim Eintritt in die Wohnung gab Abba Chilkia seiner Frau den Vortritt, nicht den Besuchern. Was können wir von Abba Chilkia und seiner Gattin lernen? Dass die Werbung von Mann und Frau umeinander keineswegs mit der Hochzeit endet. Vielmehr sollte die „Eroberungsarbeit“ im langjährigen Eheleben immer wieder neu belebt werden!
Sagen Sie uns Ihre Meinung!
Danke fuer Ihre Antwort!
Ihr Kommentar wird nach der Genehmigung veroeffentlicht.