Mein Haus

Die Trauer um die Zerstörung der zwei Tempel - natürlich sollen wir nicht darüber weinen. Denn wenn Gott möchte, dann kann Er ein schöneres Haus bauen.

5 Min.

Rabbiner David Kraus

gepostet auf 15.03.21

Wir befinden uns in den bekannten drei Wochen Ben Hamezarim (Inmitten der Bedrängnis). Diese drei Wochen gelten als drei Wochen der Trauer, das bedeutet, dass wir jetzt traurig sein und weinen müssen. Wir sind in Trauer wegen der Zerstörung der zwei Tempel am 9. Aw, wo sie den Tempel völlig zerstört haben. Der erste Tempel wurde bei der Eroberung durch die Babylonier unter Nebukadnezar II. zerstört, und der zweite durch die Römer.

 

Ich kann mich noch daran erinnern, wie ich die ersten Schritte zu meinem Glauben an Gott getan habe, wie Gott mich beschenkt, Er mir meine Augen geöffnet hat und ich Ihn erkennen durfte. Es kam der erste Tisha B`Aw und Shiva Asar B´Tammus, die zwei großen Fastentage, die im Zusammenhang mit dem Tempel stehen. Zu der Zeit verstand ich noch nicht, warum wir fasten, da ich noch völlig ungläubig war. In Jerusalem war alles abgesperrt, weil alle an die Klagemauer liefen. Ich habe nicht gewusst, was ist hier eigentlich los. Und dann sagte mir jemand: „Warum es den Tisha B`Aw gibt? Ben Hamezarim? Wir sind in Trauer, weil keine Tempel mehr stehen.“

 

Eine meiner ersten Fragen an Rabbiner Shalom Arush war: „Warum weinen wir eigentlich?“ „Weil der Tempel nicht mehr steht.“„Natürlich verstehe ich, dass wegen der Tempelzerstörung getrauert wird. Aber warum soll ich weinen? Warum in Trauer sein? Ich habe keinen Bezug zu diesem Gebäude. Ich kenne mich damit nicht aus. Es liegt zu viele Jahre von mir auseinander. Und dann noch drei Wochen lang trauern? Warum?“

 

Wenn du denkst, dass du weinen musst, weil der Tempel zerstört wurde, dann täuschst du dich. Deswegen darfst du nicht weinen und sollst auch nicht weinen. So schön er auch war und wie es im Talmud heißt: „Wer den Tempel nicht gesehen hat, der hat noch nie in seinem Leben so ein schönes Gebäude gesehen; solche Architektur, wie den Tempel.“

Aber dennoch musst du eines wissen: wenn du deswegen weinst, weil dieser Tempel nicht mehr steht, dann hast du die Hauptsache verpasst. Der Bus ist an dir vorbeigefahren, ohne dass du es überhaupt verstanden hast.

 

Denn der Tempel – so schön er auch war, war ein Gebäude, nicht mehr und nicht weniger.

 

Warum sollen wir deshalb weinen? Dass der Stein nicht mehr steht? Dass keine schönen Stoffe mehr in dem Gebäude existieren? Dass kein Tisch mehr im Gebäude steht? Warum sollen wir wegen dieser materialistischen Sachen weinen? Wegen was sollen wir drei Wochen in Trauer sein?

 

Natürlich sollen wir nicht darüber weinen. Denn wenn Gott möchte, dann kann Er ein schöneres Haus bauen. Er kann ein erstklassigeres Haus bauen. Er kann alles noch viel schöner machen als es vorher schon war. Deswegen hat es keinen Sinn, diesen Steinen hinterher zu jammern und wegen diesen traurig zu sein. Das hat überhaupt keinen Sinn.

 

Aber was müssen wir jetzt wirklich beweinen? Eine Sache: Mit der Zerstörung des Tempels ist Wissen in unserem Kopf verloren gegangen. Das Wissen, dass es Gott gibt. Der richtige Blick, Gott zu sehen und zu spüren. Aber auch in Bezug auf den zwischenmenschlichen Umgang ist ein Teil in uns kaputt gegangen. Es gab eine Trennung im zwischenmenschlichen Umgang. Das Herz war nicht mehr bei der Sache. Als der Tempel noch stand, war jeder füreinander da, aber heute wird das Zwischenmenschliche sehr vernachlässigt – so nach dem Motto „Wenn ich für dich Zeit habe, dann mache ich das.“

 

Hilfsbereitschaft kommt nicht mehr von ganzem Herzen. Das ist einfach kaputt gegangen. Man stellt auch fest, dass der Mensch keinen Wert mehr auf sich legt – alles ist billig, alles ist nur eine Show. Niemand präsentiert sich mehr als er selbst ist. Es fühlt sich jemand super happy, aber in Wirklichkeit fühlt er sich richtig elend. Der eine macht einen auf Schickimicki. Der andere einen auf super reich. Wiederum ein anderer hält sich für super intelligent.

 

Niemand präsentiert sich als er selbst ist. Jeder lernt nur das, was er selbst sieht und versteht. Die Welt ist wie eine Daily Soap. Niemand präsentiert sich selbst so wie er ist und deswegen müssen wir darüber weinen, dass es so ist; dass wir unsere Werte verloren haben; dass ein Mensch keinen Wert mehr auf Liebe legt. Ein Mensch legt keinen Wert mehr auf wahre Liebe.

 

Ein Mann lernt eine Frau kennen und er unterhält sich mit seinem Freund. Er fragt ihn nicht: „Und, spürst du Liebe? empfindest du Liebe für diese Frau? Hast du etwas empfunden?“ Das sind gar nicht die Fragen, die heute gestellt werden. Heute sind die Fragen: „Und, wie schaut´s aus? Ist sie hübsch? Ist sie das? Ist sie toll?“

Die Werte – die Hauptsache – sind verlorengegangen mit der Zerstörung des Tempels. Alles was die Hauptsache in einer Sache bildet, das Gefühl dazu, ist verlorengegangen. Und das bedauern wir – mit dem Glauben an Gott. Das Wichtigste im Glauben an Gott ist das Gebet, denn es ist eine einfache Formel. Wenn du sagst, dass du an Gott glaubst, dann sprichst du mit Ihm. Und wenn du mit Gott nicht sprichst, dann bedeutet das, dass du nicht an Gott glaubst. Das ist eine ganz einfache Formel.

 

In Sachen Liebe: Das Wichtigste ist in Sachen Liebe, diese Liebe zu spüren; dass ich möchte, dass es der frau, die ich liebe, gut geht. Das ist wahre Liebe.

Ich möchte, dass es meinem Vater gut geht, dass es meiner Mutter gut geht. Ich möchte es von ganzem Herzen, und alles, was ich tun und dazu beisteuern kann, das mache ich – ohne irgendwelche Erwartungen, etwas zurückzubekommen. Wenn jemand dabei immer nur an seinen eigenen Profit denkt, dann hat das nichts mehr mit wahrer Liebe zu tun. Das sind Interessenkonflikte, die man mit sich aushandelt.

 

Jeder muss nachvollziehen können, dass mit der Zerstörung des Tempels der Blick für die wesentliche Sache verlorengegangen ist. Und das müssen wir beweinen. Wenn jetzt jemand sagt: „Der Tempel existiert nicht mehr, deswegen musst du jetzt fasten und weinen.“

Was geht´s mich an? Ich habe keinen Bezug zu diesem Tempel, deshalb interessiert es mich nicht. Die Tora befürwortet dieses Argument, denn die Tora will nicht, dass jemand darüber weint. Die Tora interessiert etwas ganz anderes: dass du einen Blick hast für die Welt, was jetzt gerade los ist – diese Kühle und Distanz, die in dieser Welt herrschen.

 

Strecke einem Menschen die Hand entgegen, wenn er am Boden liegt. Heute ist er es, der am Boden liegt; morgen kannst du es sein. Ein Zusammensein und Miteinander. Nicht übereinander, sondern miteinander sprechen. Das Suchen des Miteinanders ist verlorengegangen, und das müssen wir bedauern in diesen drei Wochen – insbesondere dass wir mehr daran arbeiten. Menschen, mit denen du zerstritten bist: suche die Person, rede mit ihr darüber und vertraut euch wieder. Wenn du Hass in deinem Herzen über eine Person trägst, dann bist du der erste, der darunter leidet. Wenn du voller Hass, Aggression und Unzufriedenheit gegenüber einer Person empfindest, weil du ihm keine Gewalt zufügen kannst; ihm die Pest an den Hals wünschst, bist du der Erste, der darunter leidet.

 

Es ist wichtig, dass Menschen aufeinander zugehen – insbesondere Mann und Frau; den Eltern. Und auch den Kontakt zu Gott suchen; Emuna lernen; den Glauben lernen – wie wir es so schön im Buch „Im Garten des Glaubens“ von Rabbiner Shalom Arush geschrieben haben. Wir müssen dieses Buch lernen und nicht aus der Hand lassen.

 

Heute hat mich ein Mann aus der Schweiz aufgesucht. Er hat mir berichtet, wie dieses Buch sein Leben verändert hat. Es hat ihm seine Augen geöffnet und er entdeckte einen völlig anderen Horizont, weil er gelernt hat, wie er das Leben lernen muss – im Wesentlichen, und sich nicht andauernd mit der Nebensache zu beschäftigen.

 

 

Rabbiner David Kraus (M.A in Psychologie und Integrativer Psychotherapie | Dipl. Paar- und Familientherapeut | Dipl. Pädagogischer Elternberater) finden Sie bei Facebook.

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