Unser Vater, unser König

Warum eines der zentralen Gebete an diesem Jom Kippur nur einmal gesprochen wird ...

3 Min.

Rabbiner Elischa Portnoy

gepostet auf 15.03.21

Warum eines der zentralen Gebete an diesem Jom Kippur nur einmal gesprochen wird

 

Bekanntlich haben Chasanim (professionelle Vorbeter) an Rosch Haschana und Jom Kippur Hochkonjunktur: Die Gebete sind lang, es gibt viele wunderbare Pijutim, und es ist enorm wichtig, die Betenden mit schönem Gesang zu inspirieren.

 

Jedoch hat das Gebet »Awinu Malkenu« (»Unser Vater, unser König«) unter den bekannten Gebeten einen ganz besonderen Stellenwert. In vielen Gebetbüchern wird es eigens im Inhaltsverzeichnis erwähnt. Und wenn der Chasan die letzte Strophe dieses Gebets in einer besonders schönen und bewegenden Melodie singt, bleibt kaum jemand unberührt.

 

 

SCHABBAT

 

Interessanterweise aber passt das »Awinu Malkenu« – halachisch gesehen – gar nicht besonders gut zu Jom Kippur. Denn dieses schöne Gebet beinhaltet viele Bitten, bei denen es um unsere Bedürfnisse geht. Laut unseren Weisen ist es aber verboten, am Schabbat oder Jom Tow für solche Dinge zu beten.

 

Am Schabbat ist die Welt vollkommen, und es fehlt uns an nichts. Deshalb besteht auch das »Amida«-Gebet am Schabbat und an Feiertagen nur aus sieben Segenssprüchen – und nicht aus 19 Segenssprüchen wie an den Werktagen.

 

Das »Awinu Malkenu«-Gebet entstand in einer schwierigen Zeit, als es im Land Israel lange Zeit keinen Regen gab. Wie der Talmud im Traktat Taanit (25b) berichtet, übernahm der berühmte Rabbi Akiva damals die Vorbeter-Rolle, sagte ein paar Bitten, die allesamt mit »Awinu Malkenu« begannen, und sofort regnete es.

 

Warum wird dieses Gebet trotz dieser Hintergründe an Jom Kippur gesagt? Weil die ersten Strophen sehr gut zum heiligsten Tag des Jahres passen: »Unser Vater, unser König, wir haben vor Dir gesündigt«; »Unser Vater, unser König, wir haben keinen König außer Dir«.

 

 

TIKKUN

 

Jedoch muss man sich bewusst sein, dass dieses Gebet kein Hokuspokus ist nach dem Motto: Man sagt es, und plötzlich wird alles gut. Man muss vielmehr selbst etwas leisten, sich verbessern (Tikkun) und an seinen Charaktereigenschaften arbeiten.

 

Das wird auch aus der erwähnten Stelle im Traktat Taanit ersichtlich. Der Talmud berichtet, dass – bevor Rabbi Akiva seine entscheidenden Sätze sagte – dessen Lehrer Rabbi Eliezer zuerst das »Amida«-Gebet gesprochen hatte, das extra für solche Unglücke verfasst wurde und aus 24 Segensprüchen bestand. Jedoch brachte das Gebet des Lehrers im Gegensatz zu dem Gebet seines Schülers, Rabbi Akiva, keinen Regen. Seitdem war das Ansehen von Rabbi Eliezer beschädigt. Der Talmud erwähnt, dass sogar die Rabbinen die Größe von Rabbi Eliezer zu hinterfragen begannen.

 

Deshalb musste die g’ttliche Stimme (Bat Kol) verkünden, dass das Problem nicht mit der geistigen Größe von Rabbi Eliezer zusammenhing. Die Tatsache, dass das Gebet von Rabbi Akiva beantwortet wurde, lag vielmehr daran, dass Letzterer nachgiebig war. Daraus ist klar ersichtlich, dass nicht die große Weisheit von Rabbi Akiva und nicht die schönen Worte, sondern seine herausragenden Charaktereigenschaften für den Erfolg ausschlaggebend waren.

 

Jedoch hat dieses Gebet auch eine ihm eigene Kraft. Und deshalb rezitieren wir es sogar an Jom Kippur, auch wenn die einzelnen Bitten zum »Schabbat Schabbaton« (3. Buch Mose 23,32) nicht passend sind.

 

 

NEILA

 

Normalerweise wird »Awinu Malkenu« vier Mal an Jom Kippur gesagt: beim Maariw, nach Schacharit, bei der Mincha und in der Neila (Abschlussgebet). Da dieses Jahr Jom Kippur auf einen Schabbat fällt, wird es aber anders sein. An einem solchen Jom Kippur sagen aschkenasische Juden »Awinu Malkenu« nur einmal, und zwar nur während der Neila.

 

Der Grund dafür ist der gleiche, den wir schon erwähnt haben: Am Schabbat tragen wir keine persönlichen Bitten vor. Und auch, wenn Jom Kippur eigentlich den Schabbat »überlagert« (es wird ja trotzdem gefastet) – ein Schabbat bleibt dennoch ein Schabbat und behält seine Wichtigkeit.

 

 

GERICHT

 

Warum wird dann dieses Gebet bei der Neila überhaupt gesagt? Der Chofetz Chaim (Rabbi Israel Meir Hakohen, 1839–1933) erwähnt in seinem Kommentar zum Schulchan Aruch, Mischna Brura (Orach Chaim 623,10), dass sogar dann, wenn Neila noch vor Sonnenuntergang gebetet wird, das »Awinu Malkenu« gesagt wird. Der Chofetz Chaim bringt es auf den Punkt: Erst jetzt ist das Ende des g’ttlichen Gerichtsverfahrens gekommen.

 

Genau diese Tatsache zeigt uns ganz deutlich die gewaltige Bedeutung der letzten Minuten vor dem Ende von Jom Kippur: Wir haben einen anstrengenden Tag hinter uns, wir haben gefastet, wir haben viel gebetet.

 

 

TORESSCHLUSS

 

Jetzt bleiben nur noch wenige Minuten bis zum Ende. Das Wort »Neila« steht eigentlich für »Neilat haSchaarim« – das Schließen der Tore. Es sind die Tore der Gebete gemeint, und diese Tore schließen sich jetzt.

 

In diesem Moment möchten wir alle möglichen Mittel ausschöpfen: Vielleicht schaffen wir es auf den letzten Drücker doch noch, unser Schicksal zum Guten zu wenden? Kein Mittel darf jetzt ausgelassen werden!

 

Und deshalb sagen wir auch so ein mächtiges Gebet wie »Awinu Malkenu«, denn wenn nicht jetzt, wann dann? Denn gerade jetzt verstehen wir glasklar, was die Worte bedeuten: »Ein lanu Melech, ela Ata« – »Wir haben keinen König außer Dir!«

 

Daher sind wir auch nicht auf besonders schöne Chasanut für die Inspiration angewiesen, sondern wir rufen mit unseren letzten Kräften: »Ase imanu Tzedaka vaChesed veHoschienu« – »Erweise uns Milde und Liebe und rette uns!«

 

 

Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde zu Dessau und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD). Dieser Artikel erschien in der Jüdischen Allgemeinen.

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