Freier Wille

Warum Roboter nicht in die Mikwe dürfen – Die Hohen Feiertage erinnern uns daran, dass Gott nur uns Menschen die Fähigkeit zur Reflexion gegeben hat.

3 Min.

Rabbiner Raphael Evers

gepostet auf 15.03.21

Warum Roboter nicht in die Mikwe dürfen – Die Hohen Feiertage erinnern uns daran, dass G’tt nur uns Menschen die Fähigkeit zur Reflexion gegeben hat

 

Die Hohen Feiertage kennen zwei »Stufen«: An Rosch Haschana muss der Mensch sich rechtfertigen, an Jom Kippur wird ihm vergeben. Vor wenigen Tagen haben wir beim jüdischen Neujahrsfest die Schöpfung gefeiert. G’tt schuf den Menschen nach seinem eigenen Bild. Das Beste, was Er uns geben konnte, war unser freier Wille, weil wir Menschen unserem Schöpfer am meisten ähneln.

 

Heute ist der Mensch in der Lage, Roboter zu schaffen, die uns ein wenig ähneln. Apokalyptische Endzeitdenker fürchten bereits um die Zukunft der Menschheit, wenn unsere Kreaturen, die Roboter, schlauer werden als ihre Designer, die Techniker. Sie fürchten, dass die Produkte unseres Gehirns uns eines Tages angreifen und versuchen werden, uns außer Gefecht zu setzen. Diese Theorie vom Tag des Jüngsten Gerichts ähnelt dem Ödipuskomplex: Ödipus hat seinen Vater getötet, Roboter wollen ihre Erfinder töten. Ungläubige wiederum wollen das G’ttliche im Menschen loswerden.

 

 

MINJAN

 

An mich werden – auch im rabbinischen und religiösen Bereich – ernste Fragen über Roboter gerichtet, die mich zum Nachdenken gebracht haben. Was ist der Unterschied zwischen einem Menschen und einem Roboter? Kann ein Roboter »paskenen« (rabbinische Entscheidungen treffen)? Kann er Mitglied eines Beit Din (Rabbinergerichts) sein und halachische (jüdisch-rechtliche) Entscheidungen treffen oder jemanden jüdisch machen? Sollte er nicht zuerst selbst in die Mikwe (Ritualbad) gehen, um Jude zu werden? Schließlich hat er keine jüdische Mutter. Kann er aber rosten, wenn er in der Mikwe unter Wasser ist? Zählt er in einem Minjan? Zählt er als Mensch?

 

Lassen Sie uns versuchen, diese Fragen zu beantworten. Viele wollen einen Roboter mit einem Golem vergleichen, wie in Prag. Ein Golem ist ein Stück Ton, der auf kabbalistische, übernatürliche Weise zu menschlichem Leben erweckt wurde. Er scheint wie ein Mensch, ist es aber nicht. Aus einer Diskussion im Talmud geht hervor, dass ein solches künstliches Leben kein Mensch ist. Als ein talmudischer Rabbiner einen Golem zu einem anderen Rabbiner schickte, konnte Letzterer sich nicht zufriedenstellend mit dem Golem verständigen. Der zweite Rabbi zog den Namen G’ttes aus seinem Kopf, und der Golem kehrte zu Staub zurück.

 

 

ENGEL

 

Doch vielleicht lässt sich der Roboter – lehavdil, um einen Unterschied zu machen – mit einem Engel vergleichen. Ein Engel wird oft als eine übernatürliche Person mit Flügeln dargestellt, aber der Begriff Engel ist viel weiter gefasst. Jede Naturgewalt wird auch Engel genannt. Engel sind himmlische Wesen mit bestimmten Aufgaben, ohne freie Wahl. Einige sind emotionale Wesen, andere sind intellektuell, und andere sind instrumental. Engel sind G’tt nahe, können aber nicht Teil eines Minjans sein. Sie sind weder jüdisch noch menschlich.

 

Wie den Engel sollten wir den Roboter nicht als Bedrohung sehen, sondern als eine Möglichkeit, uns von harter körperlicher Arbeit zu befreien, um uns der höheren Reflexion zu widmen. Denn das ist es, wozu wir letztendlich geschaffen wurden. Und für unsere höheren und spirituellen Leistungen werden wir an Rosch Haschana gerichtet, und an Jom Kippur vergibt uns G’tt unsere Fehler.

 

Gerade wegen des Fehlens eines wirklichen freien Willens des Roboters bleibt sein geistiger Vater oder seine Mutter haftbar für alle Schäden, die der Roboter verursacht – so wie wir für alles andere, was wir in dieser Welt erschaffen, verantwortlich bleiben. Mit den Hohen Feiertagen sind wir aufgerufen, für unsere Taten Rechenschaft abzulegen.

 

 

WAHL

 

Aber was macht den Menschen zu einem höheren Wesen als ein Roboter? Mit einem allmächtigen, allumfassenden G’tt ist der wirklich freie Wille ein enormes philosophisches Problem: »Wenn G’tt schon alles wissen würde, was ich morgen tue, welche freie Wahl habe ich dann?«

 

Doch wir sind mehr als nur eine Ansammlung von Knochen und Genen. Wir Menschen sind extrem komplexe Wesen, die wirklich zwischen Gut und Böse wählen können.

 

Der Preis unseres freien Willens ist das Böse in dieser Welt. Adam wurde am sechsten Schöpfungstag in der neunten Stunde des Freitagnachmittags erschaffen. Das ist der Tag, an dem wir jedes Jahr Rosch Haschana feiern. Wir feiern die Erschaffung des ersten Menschen mit einem freien Willen. Er hat die Situation schnell durcheinandergebracht.

 

Das Verbot, vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse zu essen, würde nur für drei Stunden gelten, bis der Schabbat um 18 Uhr begann. Adam hatte nur ein Verbot für die Dauer von drei Stunden. Doch selbst das hat er nicht durchgehalten. Er aß und wurde sterblich. Unser freier Wille hat Vor- und Nachteile. Aber eines ist klar: Wir sind keine Engel, wir sind keine Roboter. Wir sind mehr, und deshalb haben wir die Hohen Feiertage. Schana towa und Ktiwa towa!

 

 

Der Autor ist Oberrabbiner der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf, Dajan beim Europäischen Beit Din und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD). Dieser Artikel erschien in der Jüdischen Allgemeinen.

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