Tu BiAv – Einheit und Vielfalt
Der fünfzehnte Av – Tu BiAv – symbolisiert die Einheit und Vielfalt des Volkes Israel – so viele Gruppen, Mentalitäten und Geschmäcker. Alles begann, als die zwölf Stämme in die Welt kamen.
Es war einmal ein Vater, der rief vor seinem Tod seine Söhne zu sich. Er wollte ihnen sein Vermächtnis mitteilen. Dazu gab er jedem der Söhne einen Holzstecken in die Hand und sagte ihnen, sie sollten ihn zerbrechen. Die Söhne wunderten sich, aber taten, worum ihr Vater bat: vom Ältesten bis zum Jüngsten zerbrachen alle ihren Stecken ohne Probleme.
Danach bat der Vater seine Söhne, jeder einen neuen Stecken zu nehmen und ihre Stecken zu einem Bündel zu vereinen, und dann das Bündel von einem zum anderen zu geben, und jeder solle versuchen, das Bündel zu zerbrechen. Wie zu erwarten gelang es keinem der Söhne, nicht einmal dem Stärksten von allen, das Bündel zu zerbrechen.
Der Vater war sehr zufrieden mit dem gelungenen Experiment, und sagte seinen Söhnen: “Seht ihr? Jeder von euch kann einen einzelnen Stecken zerbrechen, aber ein Bündel Stecken kann niemals zerbrochen werden!”
Das ist die Regel, die der Vater seinen Söhnen mitgeben wollte. Wenn sie vereint wären, in Frieden zusammenlebten, könnte kein Feind und kein Unglück ihnen etwas anhaben. Aber wenn sie sich stritten, sich trennten, wäre jeder ein einzelner Stecken, jedem Unheil schutzlos ausgeliefert, G-tt behüte!
Der fünfzehnte Tag des Monats Av – auf Hebräisch Tu BiAv – symbolisiert die Einheit des Volkes Israel. Es gibt im Volk Israel viele verschiedene Gruppen, jede mit ihren eigenen typischen Gerichten und Bräuchen. Mit verschiedenem Charakter, Mentalität und Aussehen. Schon Jakov Avinu sah das und machte sich Sorgen: Was würde mit seinen zwölf Söhnen geschehen? Würden sie sich trennen und aus zwölf Stämmen zwölf Völker werden? Was könnte ihnen ihre Einheit bewahren? Wie könnten sie ein Volk, anders als alle anderen Völker sein?
Und seine zwölf Söhne, die um sein Bett herumstanden, beruhigten ihn mit diesem Satz: “Höre Israel, HaShem ist unser G-tt". Der Ewige, gepriesen sei er, er ist unser aller G-tt, und er ist einer und einzig, er ist die Basis unserer Einheit. Wir glauben an ihn und nur auf ihn verlassen wir uns. Darum ist es nicht wichtig, dass wir unterschiedlich sind, auch wenn wir manchmal sehr unterschiedlich sind – wir haben einen Faden, der uns alle verbindet – der Glaube an den einen G-tt. Wenn wir in diesem Glauben verbunden sind, dann mit G-ttes Hilfe kann uns keiner etwas anhaben.
Jakov hört, was seine Söhne sagen und antwortet ihnen freudig: “Gepriesen sei sein Name und seine Herrschaft in Ewigkeit!”
Später, als das Volk Israel wuchs, war es ihnen verboten, zwischen den Stämmen zu heiraten. Diese Regel galt, bis das Land Israel unter den Stämmen aufgeteilt wurde. Und während sie galt, schmerzte es die Stämme sehr, dass sie nicht untereinander heiraten konnten. Sie erinnerten sich, wie sehr Jakov wollte, dass vereint wären – und wie konnten sie ein Volk sein, wenn sie immer nur innerhalb des eigenen Stammes heiraten durften? Wir können also die große Freude verstehen, die ausbrach, als diese Regel aufgehoben wurde. Und das geschah am fünfzehnten Av, nach der Eroberung und Aufteilung des Landes Israel. Dann endlich konnten sie erfüllen, was sie ihrem Vater Jakov versprochen hatten: “Höre Israel… HaShem ist einer”.
Und seitdem wurde jedes Jahr Tu BiAv gefeiert. Und die Mädchen gingen aus der Stadt hinaus und tanzten in den Weinbergen – und alle trugen weiße Kleider, die sie ausgeliehen hatten – damit man nicht sehen konnte, wer woher kam, und wer aus einer reichen und wer aus einer armen Familie kam. In der Gemara steht darüber im Traktat Ta’anit: “Israel hat keine Tage so gut wie den fünfzehnten Av und Jom Kipur”.
Wir haben heute noch nicht das Vorrecht, an Tu BiAv wieder in den Weinbergen zu tanzen. Aber wir haben viele verschiedene Gruppen und Unterteilungen im Volk Israel. Es fehlt uns dieser besondere Ausdruck der Einheit – die Tänze in den Weinbergen – aber wir haben andere Wege, unsere Einheit untereinander auszudrücken. Wir können jeden so annehmen, wie er ist, ohne Vorurteile und Stigmatisierungen und Hochnäsigkeit. Ohne eine Beziehung zwischen Ashkenazen und Sefarden, die beschämend ist, oder ohne Abwertung von jedem, der unseren Glauben nicht genauso energisch auslebt wie wir. Wir können den anderen wirklich und von Herzen achten und wertschätzen, in dem Wissen, dass unser Gegenüber nicht einfach jemand mit Vorfahren aus Georgien oder Äthiopien ist, ein Chasid oder ein National-Religiöser, sondern unser Bruder. Er kommt von einem anderen Ort, von einem anderen Stamm vielleicht, seine Bräuche sind anders, seine Mentalität, aber dein Bruder wird er immer bleiben! Daran müssen wir uns immer erinnern, um unsere Einheit zu wahren, die uns beschützt.
Jeder von uns ist verpflichtet, ein treuer Diener seines Schöpfers zu sein und seine Aufgabe mit Hingabe zu erfüllen, da, wo er hingestellt wurde. Und dabei den anderen zu achten. Nur so können wir guten Gewissens sagen “Höre Israel… HaShem ist einer”.
Rabi Nachman aus Breslev sagt: “Bei HaShem, gepriesen sei er, ist es üblich, auf die guten Taten zu sehen. Auch wenn da manches Nicht-Gutes ist, das schaut er einfach nicht an. Und dann ist es erst recht dem Menschen verboten, seinen Mitmenschen schlecht anzusehen, die Dinge zu suchen, die nicht gut sind, die Fehler im religiösen Leben des anderen. Im Gegenteil, der Mensch ist verpflichtet, nur auf das Gute zu sehen, und die Vorzüge zu suchen und zu finden. Und auf diese Weise wird er Frieden mit allen haben.” Rabi Nachman lehrt uns, dass wir Frieden untereinander haben können, indem wir das Gute im anderen sehen. Und wir wissen, dass es keine Einheit ohne Frieden geben kann.
Und warten wir nicht auf die Erlösung? Aber wie kann ein Jude ernsthaft glauben, dass die Erlösung kommen wird, während er auf seinen Kollegen herabschaut, weil er einer anderen Gruppe angehört? Wie kann er es wagen, zu beten: “Lass unsere Augen sehen, wie du nach Zion zurückkommst” während er Witze über die Aussprache des anderen beim Gebet macht? Wir sind ein Volk mit zwölf Stämmen, mit verschiedenen Kulturen innerhalb des Volkes. Um das Vermächtnis unseres Vaters Jakov zu erfüllen, müssen wir jeden Juden mit offenen und liebevollen Armen empfangen. Wenn wir das tun, werden wir an Tu BiAv bald auch wieder die Tänze in den Weinbergen sehen, an einem der besten Tage Israels.
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