Mörder oder Absicht
Diese Überschrift klingt ein wenig seltsam und scheint sogar einen inneren Widerspruch zu enthalten ...
Diese Überschrift klingt ein wenig seltsam und scheint sogar einen inneren Widerspruch zu enthalten … Wie kann es angehen, dass jemand etwas „ohne Absicht“ tut und dennoch „Mörder“ genannt wird? Ist ein Mörder denn nicht jemand, der einen Menschen absichtlich umbringt?
Da lehrt uns also die Tora, dass auch jemand, der nicht töten wollte, der noch nicht einmal irgendjemanden schädigen wollte, doch die Tötung eines Menschen verursachte, ein „Mörder“ genannt wird. „Jeder, der die Seele eines Menschen von Israel tötet, übertritt ein Verbot, wie es heißt: Du sollst nicht morden.“ (Maimonides „Mischne Tora“, Gesetze vom Mörder und dem Hüten der Seele, 1,1; nach Ex. 20,13, Dt. 5,17). Die Tora lehrt, wie sehr bedeutend ein Menschenleben ist und wie weit die Verantwortung des Menschen reicht, selbst unabsichtlich kein Menschenleben zu nehmen. „Jeder, der ohne Absicht tötete, wird von seinem Ort an eine der Zufluchtsstätte verbannt.“ (MT, ebda., 5,1). Der „Mörder ohne Absicht“ erhält nicht nur den Titel „Mörder“, er muss auch seinen Wohnort verlassen und ins Exil in eine der Zufluchtsstätte gehen. Er muss also in eine Stadt umziehen, die den eindeutigen Titel „Zufluchtsstadt“ trägt. Warum berücksichtigt die Tora nicht die Tatsache, dass er ohne Absicht tötete? Warum berücksichtigt die Tora nicht die Gewissensbisse dieses Totschlägers?
Wenn wir uns einmal die Urteile der Gerichte in unserem Lande ansehen, stellen wir sogleich fest, dass die Strafen für Totschläger sehr milde bis lächerlich leicht ausfallen. Wer bei einem Verkehrsunfall ohne Absicht den Tod eines Anderen verursachte (allerdings nicht in dem Fall, wenn der Unfall unvermeidbar war), oder wenn sich beim Prüfen der Waffe ein Schuss löste und jemanden traf, diese und ähnliche Fälle erhalten „unter Berücksichtigung der Umstände“ einige Monate Sozialdienst oder Geldstrafen. In ganz seltenen Fällen hört man von einem Jahr Freiheitsentzug für einen Totschläger. So eine Strafe wird nur bei grober Fahrlässigkeit verhängt.
Diese Einstellung rührt anscheinend von christlichen Einflüssen auf die Rechtsprechung her. Nach dieser Weltanschauung ist die Welt „eine Nummer zu groß“ für den Menschen, er kann sich wirklich nicht mit ihr auseinander setzen und seine Triebe und menschlichen Schwächen beherrschen. Der Mensch ist in dieser Welt ein bemitleidenswertes Geschöpf, und nur Vergebung und Nachgeben können ihn aus dem Sumpf retten, der „diesseitige Welt“ genannt wird.
Das Christentum ist eine nachgiebige Religion, weil sie vom Menschen keinen Erfolg bei der Reinigung der Welt und der Überwindung des Bösen in ihr erwartet.
Die Weltanschauung der Tora ist in dieser Hinsicht das genaue Gegenteil. Der Mensch kann die negativen Seiten seines Lebens überwinden. Gott machte den Menschen grade, und es liegt an ihm, kleinliche Berechnungen abzuweisen. In allen Zeitaltern zeigten viele Juden, dass der Mensch sich überwinden und gerade und rein sein kann. Darum kann man vom Menschen Verantwortlichkeit für sein Leben verlangen, und auch für Dinge, die er ohne Absicht verursacht. Das Vergießen menschlichen Blutes ist ein schweres Vergehen am Schöpfer der Welt, „denn im Bilde Gottes hat er den Menschen gemacht.“ (Gen. 9,6). Der Mensch ist die höchste Offenbarung des Schöpfers der Welt. Der Mensch hat die Aufgabe, für die Ehre Gottes in der Welt und die Heiligung seines Namens zu sorgen. Diese Aufgabe liegt im Verantwortungsbereich des Menschen, und er kann es auch schaffen.
Die schwere Strafe für den Totschläger ist das Ergebnis der Erkenntnis von der Wichtigkeit des Lebens und der Pflicht des Menschen, für seine Taten die Verantwortung zu tragen und mehrere Schritte im Voraus ihre Auswirkungen zu bedenken. Es mag wohl sein, dass sich der „Mörder ohne Absicht“ Gewissensbisse wegen seiner Tat macht, doch die kommen zu spät und reichen nicht aus.
Zur Zufluchtsstadt muss auch der Lehrer des Mörders kommen, was uns lehrt, dass das Problem bei der Erziehung liegt. Es geht dabei nicht um einen zufälligen Fehlschlag. So ein Fehler offenbart sich zu einer Zeit, wenn der Mensch den Wert des Lebens nicht angemessen beurteilt und keine Verantwortung für seine Taten zeigt – ganz klar ein erzieherisches Problem, das mit der Erziehung des Menschen beginnt. Darum wird auch sein Rabbi ins Exil geschickt, und gemeinsam gehen sie ein neues Erziehungsprogramm durch.
Zur Zeit des Verfassens dieser Zeilen wurden in den vergangenen acht Monaten über 270 Menschen bei Verkehrsunfällen getötet, und weitere tausend schwer verletzt. Zwar spricht man viel, und zu recht, von einer Erziehung zu Vorsicht und Verantwortung – doch ein Teil dieser Erziehung besteht in der Bestrafung. Aus einer lächerlich milden Bestrafung lässt sich folgern, dass Menschenleben wohl nicht so furchtbar wichtig sind, oder dass ein Mensch für seine absichtslosen Taten nicht verantwortlich ist, oder beides zusammen.
Die Bestrafung muss radikal geändert werden, nicht nur, um eine Abschreckung zu bieten, sondern um der Wahrheit willen, denn so ist es recht. Wenn jemand mit schweren Geldstrafen und Sozialarbeit belegt werden würde, der in einem Jahr zwei schwere Verkehrsvergehen wie Überschreitung der zugelassenen Höchstgeschwindigkeit oder verbotenes Überholen begangen hat, selbst ohne einen Unfall zu verursachen, wenn man für die unbeabsichtigte Verursachung eines Unfalls mit Verletzten ein Jahr Freiheitsstrafe und für einen tödlichen Unfall mindestens drei Jahre bekäme, wäre sofort der Wert eines Menschenlebens für alle klar, und welche Verantwortung auf dem Menschen lastet.
„…und er soll in eine von diesen Städten flüchten und leben bleiben“ (Dt. 4,42) – Wenn sich einem Menschen von Israel so ein furchtbarer Fall ereignete, dass er einen Menschen ohne Absicht tötete, und seine Seele ihm sehr bitter ist bis dass er keinen Platz für sich auf der Welt findet, sagt ihm der Heilige, gelobt sei er: so werde ich dir einen Ort einrichten, wohin er fliehen soll.“ (Ex. 21,13) In die Zufluchtsstätte. Dort wird er Rettung und Ruhe finden. Wenn aber die Bitterkeit den Menschen nicht vollständig vereinnahmte und er immer noch ein kleines Plätzchen für sich findet – dann nimmt ihn die Zufluchtsstätte nicht auf, und er hat dort keinen Platz (Chiduschej HaRim, der Rabbi von Gur, lebte vor etwa 150 Jahren).
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