Starr und stur

Der ägyptische Herrscher weigert sich einzusehen, dass seine Macht begrenzt ist.

4 Min.

Rabbiner Netanel Wurmser

gepostet auf 05.04.21

Der ägyptische Herrscher weigert sich einzusehen, dass seine Macht begrenzt ist

Der Wochenabschnitt Bo schildert, wie der Pharao die achte, neunte und zehnte Plage hinnimmt. Mehr als 400 Jahre zuvor hatte Awraham zehn Lebensprüfungen bestanden. Nun wird der ägyptische Herrscher, der sich von niemandem belehren lassen möchte, mit genau zehn Plagen zur Raison gebracht. Eigentlich hätte der Ewige ihn auch mit einer einzigen Strafe in die Knie zwingen können, doch zeigt sich hier, dass jedes g’ttliche Strafmaß individuell genau berechnet ist.

Die relativ kurzen Plagenintervalle lassen Pharao immer wieder neuen Mut schöpfen, um sich dem Himmel zu verweigern. Er ist felsenfest davon überzeugt, selbst ein »Gott« zu sein. Er glaubt, er habe auf niemanden zu hören und auf niemanden Rücksicht zu nehmen. Selbst die allmähliche Zerstörung seines eigenen Landes lässt ihn kalt.

Arbeh (Heuschrecken), Choschech (Finsternis) und Makat Bechorot (das Erschlagen der Erstgeborenen) machen das Strafmaß voll. Wie Rabbiner Samson Raphael Hirsch (1808–1888) ausführt, sollte Pharao dazu gebracht werden, G’ttes Allmacht zu akzeptieren: »Ich habe ihm nicht alles zugleich vernichtet, … sondern ihm etwas gelassen, woran er sich klammerte, und da Ich ihm das Empfindlichste, die Vernichtung des eigentlichen ägyptischen Fruchtreichtums, bis zuletzt ersparte, konnte er noch immer an Meiner eigentlichen Allmacht zweifeln.«
 

SAND

Der Midrasch zitiert zum weiteren Verständnis die Sprüche König Salomos (Mischle 27,3): »Die Schwere des Steines, die Last des Sandes, die Auflehnung des Toren (gegen G’tt) wiegt schwerer als die beiden (ersteren).«

Die Konsistenzen von Stein und Sand sind einander ähnlich und doch verschieden. Steine sind schwer und können nur mithilfe stark wirkender Kräfte bearbeitet werden. Da muss gehämmert oder gemeißelt werden. Mit Sand hingegen ist sehr viel leichter umzugehen. Er gibt jedem Druck nach, verändert schnell seine Form und leistet wenig Widerstand. Ähnlich wie bei der Bearbeitung von Stein musste der Ewige bei Pharao enorm starke Kräfte wirken lassen, bis dieser endlich anfing, Ihn zu akzeptieren, so der Vergleich im Midrasch.

Die oben erwähnte »Last des Sandes« erinnert uns an die Erfahrungen von Josefs Brüdern. Bruderhass hatte dazu geführt, dass Josef von seinen Brüdern nach Ägypten verkauft wurde. Eigentlich war da ein großes, unverzeihlich erscheinendes Verbrechen geschehen – sowohl gegenüber Josef als auch gegenüber dem trauernden, todunglücklichen Vater Jakow. Bei näherer Betrachtung jedoch führte dieser für Josef so schmerzvolle Weg später zur Erlösung aus der Sklaverei.

Eine Hungersnot zwingt Jakow Awinus Söhne, in Ägypten Getreide einzukaufen. Beim zweiten Einkauf lässt Josef die Getreidesäcke kontrollieren – und in Benjamins Sack wird ein angeblich aus Josefs Haus gestohlener Becher gefunden. Jehuda tritt für alle Brüder ein und erwidert vor Josef, der nach Pharao die höchste Regierungsgewalt in Ägypten innehatte: »Was sollen wir meinem Herrn sagen, was sprechen, womit uns rechtfertigen? G’tt hat die Sünde deiner Diener heimgesucht« (1. Buch Mose 44,16).

Um Josefs Brüder zur Einsicht und inneren Umkehr zu bewegen, mussten – ganz im Gegensatz zu Pharao -bedeutend geringere Kräfte mobilisiert werden. Zwei Reisen nach Ägypten hatten zusammen mit all den Erfahrungen bereits genügt, um augenblicklich und ohne weitere größere Umstände Jehudas Herz umzustimmen. Er bereute seine Verfehlungen. Wie Sand ließ er sich leicht in Form bringen und bewegen.

NAPOLEON

Nicht immer finden wir in der Realität des Lebens so eindeutige Konstellationen wie bei Pharao und Jehuda. Die Geschichte erzählt, wie Napoleon auf seinem Russland-Feldzug eine bestimmte Stadt nicht einnehmen konnte. Das traf seinen Stolz. Deshalb belagerte er die Stadt in der Hoffnung, dass sie von selbst, aus Mangel an Nahrung, kapitulieren würde.

Der Stillstand der Kriegsgeschehnisse hatte jedoch zur Folge, dass seine eigenen Soldaten ungeduldig wurden und die innere Moral des Heeres bedroht war. Napoleon befand sich in einem Zwiespalt: Sollte er seinen Nimbus der Unbesiegbarkeit in Frage stellen lassen, oder sollte er es in Kauf nehmen, dass seine Soldaten anfangen zu meutern?

Er beschließt, gemeinsam mit einem Offizier inkognito die belagerte Stadt auszukundschaften, um herauszufinden, ob die Bewohner noch lange ausharren können oder nicht. Verkleidet schleichen sie sich ins feindliche Lager und kommen in einen Soldatenklub. Dort erfahren sie, dass man die Lage der Stadt als äußerst schwierig einschätzt und man darüber nachdenkt, aufzugeben. Napoleon und sein Offizier freuen sich darüber.

 

GEFAHR

Plötzlich ruft ein russischer Soldat, dass wohl einer der verkleideten Gäste in Wirklichkeit Napoleon ist. Ein anderer Soldat wirft ein: Er könne kaum glauben, dass sich Napoleon hinter die feindlichen Linien begeben und sich einer derart großen Gefahr aussetzen würde.

Napoleons Begleiter will ablenken und bestellt eine Maß Bier. Napoleon selbst geht an den Tresen, um es zu holen. Doch er passt nicht auf, der gefüllte Bierhumpen kracht zu Boden und geht kaputt. Um die Situation zu retten, schreit Napoleons Offizier laut auf und schlägt auf Napoleon ein, bis dieser verletzt zu Boden geht.
Schon tönt es von einem russischen Soldaten: Und ihr hattet geglaubt, dass dieser Idiot Napoleon sei! Ein großes Gelächter bricht unter den Anwesenden aus. Schnell bezahlt Napoleons Offizier das Bier und den zerbrochenen Humpen, und beide verlassen so schnell wie möglich die Szene.

Sobald sie außerhalb der Gefahrenzone sind, wirft sich der Offizier Napoleon zu Füßen: Majestät, nur um Ihr Leben zu retten und um aus der gefährlichen Situation herauszukommen, griff ich zu dieser drastischen Maßnahme. Napoleon dankt ihm – er versteht, dass die Schläge ihm das Leben gerettet haben. Er befördert den Offizier und beschenkt ihn. Bald danach nehmen Napoleons Truppen die feindliche Stadt ein.

 

MASSNAHMEN

Alle Mächtigen müssen auf je eigene Art lernen, dass ihre Macht nicht unbegrenzt ist. G’ttes Maßnahmen sind jeweils verschieden und der individuellen Situation der Betreffenden angepasst: Bei Pharao haben wir gesehen, dass nur allerhärteste, drastische Maßnahmen seinen Stolz brechen. Bei Jehuda war das nicht nötig. Nachdem er eingesehen hatte, dass die Dinge falsch gelaufen sind, zeigte er sofort Reue und bewirkte dadurch, dass Benjamin nicht belangt wurde und alles sich zum Guten wandte.

Napoleon war nur zum Teil einsichtig. Einerseits belohnte er den Offizier, obwohl dieser es gewagt hatte, ihn zu schlagen. Andererseits war er hart wie der Pharao und wollte unbedingt die russische Stadt erobern.

Der Autor ist Landesrabbiner der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württembergs und Mitglied der ORD.

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