Wer eine Seele erschlägt

Was schriftliche und mündliche Tora von der Todesstrafe halten...

3 Min.

Rabbiner Arie Folger

gepostet auf 05.04.21

Was schriftliche und mündliche Tora von der Todesstrafe halten

Nach der Ermordung der drei israelischen Teenager sind Stimmen laut geworden, die die Einführung der Todesstrafe für Terroristen fordern. Vor 100 Jahren hätte man dem sicherlich zugestimmt. Doch seit einigen Jahrzehnten betrachtet man die Todesstrafe in weiten Teilen des Westens als unzumutbar, ja, hält sie sogar für ethisch unvertretbar. In Europa wurde sie – bis auf Weißrussland – abgeschafft oder existiert nur noch in der Theorie. In vielen Bundesstaaten der USA hat man sie nach einem Moratorium in den frühen 70er-Jahren allerdings wieder eingeführt.

Der aktuelle Wochenabschnitt, Mass’ej, schildert die jüdische Gesetzgebung in Bezug auf Mord und bildet damit einen wichtigen Quellentext dafür, welche Auffassung das Judentum zur Todesstrafe vertritt: »Diese Rechtssatzung gilt für alle eure Geschlechter an allen euren Wohnorten: Wer eine Seele erschlägt, den soll man töten, nach Aussage der Zeugen; ein einziger Zeuge aber genügt nicht zur Hinrichtung eines Menschen« (4. Buch Mose 35, 29–30).

KRITISCH

Die Tora schreibt bei bestimmten Delikten die Hinrichtung vor. Doch rabbinische Kreise heute betrachten Todesurteile durchaus kritisch. So ist es erst ein paar Wochen her, dass die Europäische Rabbinerkonferenz ein Todesurteil für führende Mitglieder der islamistischen Muslimbrüder in Ägypten stark kritisierte. Was sagen unsere rabbinischen Quellen zur Todesstrafe?

Ignoriert man die Tora schebeal Pe (die mündliche Überlieferung), dann sieht es so aus, als ob Todesurteile recht locker gefällt würden. Zu den Delikten, für die die Todesstrafe vorgeschrieben wird, zählen nicht nur Mord, sondern eine Reihe sexueller Praktiken und Vergehen sowie Götzendienst, G’tteslästerung und das Verletzen des Schabbats.

Als Mosche vom Berg herabstieg und sah, dass sich das Volk ein Goldenes Kalb gemacht hatte und es anbetete, rief er: »Wer für G’tt ist, komme mit mir.« Weiter lesen wir dann: »Und sie töteten 3000 Menschen.« Betrachtet man diese Worte ohne den Kontext der mündlichen Tora, denkt man an eine brutale Bande, die voller Willkür gewalttätig durch ein Viertel zieht.

WEISHEIT

Aber so lesen wir Juden die Tora nicht. Die Tora schebeal Pe schließt die sorgfältige Vermittlung des Kontexts der biblischen Geschichten ein sowie rabbinische Weisheit und viel Wissen, das aus den Urzeiten unseres Volkes stammt. Einen Teil der mündlichen Tora betrachten wir als Halacha leMosche miSinai – als Halacha, die Mosche am Berg Sinai gelehrt wurde. Sie ist deshalb dem Pentateuch ebenbürtig.

Die mündliche Tora lehrt, welche Bedingungen erfüllt werden müssen, ehe ein Todesurteil gefällt werden kann: Es verlangt zwei koschere Zeugen. Das heißt, dass sie ohne Zweifel vollkommen ehrlich und weder miteinander, mit dem Opfer oder dem mutmaßlichen Täter verwandt sind. Zudem muss der Täter vor der Tat ausdrücklich gewarnt worden sein, dass nämlich das, was er tun möchte, verboten ist und zur Todesstrafe führen wird. Diese Warnung muss der Täter bestätigen, indem er erwidert, dass er das Verbrechen trotzdem begehen wird.

Todesurteile durften nur vom Sanhedrin gefällt werden. Die Zeugen wurden ausführlich befragt, und jeglicher Widerspruch zwischen ihren Aussagen konnte das Zeugnis ungültig machen, auch wenn kein Zweifel an der Schuld des Angeklagten bestand. Der Sanhedrin war verpflichtet, ernsthaft zu versuchen, Gründe für Milde zu finden. Deshalb wurde ein Todesurteil ungültig, wenn alle einstimmig dafür waren. Erst wenn es einige wenige abweichende Stimmen gab, konnte das Urteil vollzogen werden.

GERICHTSVERFAHREN

Auch die Vergeltungsaktion nach dem Goldenen Kalb ist laut mündlicher Überlieferung als fast ordentliches Gerichtsverfahren zu interpretieren. Besonders realistisch und der Überlieferung treu schrieb dies Gideon Rothstein in seinem Buch Cassandra Misreads the Book of Samuel (2008).

Diese Einschränkungen und manche weitere zeigen, dass nach unserer Tradition Todesurteile eher Theorie als Praxis sein sollten. Nach dem Talmud (Makkot 7a) kamen sie kaum vor. Unsere Weisen bekunden größte Abneigung gegen die Todesstrafe. Ein Sanhedrin, der einmal in sieben Jahren ein Todesurteil fällte, wurde »verderbenbringend« genannt, nach Rabbi Elieser ben Asarja sogar schon, wenn er es einmal in 70 Jahren tat.

Sollten Hinrichtungen also grundsätzlich tabu sein und nach der Halacha auch Terroristen nicht hingerichtet werden dürfen? Dem ist nicht so. Erstens ist der Terrorismus ein Krieg, und im Krieg gelten auch nach der Halacha andere Regeln. Außerdem dürfen wir nicht die Augen schließen vor der Gefahr, die von einem Gefangenenaustausch ausgeht.

TERRORANSCHLÄGE

Wenn entlassene Häftlinge als Helden empfangen werden und oft in kürzester Zeit wieder Terroranschläge verüben, dann darf ein Rechtsstaat sich die Frage stellen, ob Todesurteile nicht vielleicht doch möglich sein sollten. Diese Entscheidung wäre aber dann eine außerordentliche und hätte zu biblischen Zeiten nicht in den Händen des Sanhedrins, sondern in denen des Königs gelegen, also in den Händen der weltlichen Macht.

Der Rambam, Maimonides (1135–1204), lehrte: »All diese Mörder und ähnlichen Verbrecher, die vom Beit Din kein Todesurteil bekommen – wenn der König Israels sie nach dem Gesetz seines Reichs und für den Schutz des Gemeinwohls hinrichten möchte, darf er das. So darf der Gerichtshof bei außergewöhnlichem Bedarf auch die Strafen aussprechen, die für diese Notsituation erforderlich sind.«

Es ist absolut undenkbar, willkürlich mit Menschenleben umzugehen, Unrecht zu tun oder aus Rache zu handeln. Es ist unzumutbar und obendrein gefährlich, wenn Bürger das Gesetz selbst in die Hand nehmen.

Der Autor ist Mitglied der ORD.
 

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