Helfende Distanz
Warum die Tora das jüdische Volk aufruft, heilig zu sein. Das Gebot „Heilig sollt ihr sein“, enthält im Gegensatz zu vielen anderen Geboten eine ausdrückliche Aufforderung.
Warum die Tora das jüdische Volk aufruft, heilig zu sein
Das Gebot „Heilig sollt ihr sein“, enthält im Gegensatz zu vielen anderen Geboten die ausdrückliche Aufforderung an Mosche, sich an das gesamte jüdische Volk zu wenden: „kol adath bnej israel“ – die ganze Gemeinde der Kinder Israel“. Um dieser Besonderheit auf den Grund zu gehen, muss man sich mit der Bedeutung des Gebotes, „heilig zu sein“ auseinandersetzen. Doch was genau ist diese „Keduscha“, die gewöhnlich mit „Heiligkeit“ übersetzt wird, die hier vom jüdischen Volk gefordert wird? Sicherlich liegt der Schlüssel zum Verständnis dieser Mizwa im Begriff der Heiligkeit selbst.
Laut dem Ramban, bekannt auch als Nachmanides, einem Torakommentator aus dem frühen Mittelalter, ist diese Mizwa eine Art zusätzliche Dimension für alle in der Tora ausgesprochenen Verbote. Es ist das Gebot, das den anderen Geboten als Fundament dient, und es ist das Gebot, das die anderen Gebote „heilig“ macht.
Die wortgetreue Einhaltung der in der Tora enthaltenen Verbote lässt zumindest theoretisch ein Denken und Handeln zu, das dennoch manchmal im Widerspruch zum ursprünglichen Sinn und Zweck des Verbotes steht. Doch die Mizwa „Heilig sollt ihr sein“ ruft zu einer persönlichen Einstellung auf, bei der es nicht genug ist, sich lediglich an die paragrafentreue Einhaltung des Gesetzes zu halten, sondern das eigene Tun und Lassen soll sich ganz nach dem Geist der Tora ausrichten.
Dieses Konzept ist in der talmudischen Literatur auch als „lifnim meschurat hadin“ bekannt, was so viel wie „über den Rahmen des Gesetzes hinausragend“ bedeutet. Es ist das Konzept, das etwas über die geistige Stufe eines jüdischen Menschen aussagt und seine wahre Gottesfurcht bezeugt.
Wir Menschen suchen oft nach legalen Gesetzeslücken. Zwar bewegen wir uns dabei in einem juristisch verfolgungsfreien Bereich, doch trotzdem kann unser Tun mehr als verwerflich sein und manchmal sogar zu „chillul haschem“ führen, der Entheiligung des göttlichen Namens. Selbst innerhalb der von G’tt gegebenen Gesetze der Tora ist immer noch ein Raum für quasi legales Handeln, das dem Betroffenen das trügerische Bewusstsein gibt, ein gesetzestreuer Jude zu sein.
Genau um diesen Selbstbetrug zu verhindern, ruft die Tora das jüdische Volk auf, „heilig zu sein“ und wenn es sein muss, so zu handeln, dass unser Tun weit über den Rahmen des minimalen Gesetzes hinausragt – „lifnin mischurat hadin“.
Nachmanides erklärt ausführlich bis ins kleinste Detail den Zusammenhang zwischen unserer Parascha Kedoschim und den Zehn Geboten. Seiner Meinung nach findet sich jedes der Zehn Gebote in unserem Wochenabschnitt Kedoschim wieder. Die Parallele lässt sich aber noch weiter verfolgen: So wie die Zehn Gebote das gesamte Leben eines jüdischen Menschen umfassen, so soll die in der Tora geforderte Heiligkeit ein ständiger Begleiter im Alltag sein.
Die Aufforderung, sich „lifnim meschurat hadin“ zu führen und stets im Geist der Tora zu handeln, ist von derartiger Bedeutung, dass dafür genau wie bei der Offenbarung und der Übergabe der Zehn Gebote am Berg Sinai noch einmal das gesamte jüdische Volk versammelt werden musste. Allein aus diesem Grund wurde Mosche beauftragt, dieses besondere Gebot der ganzen Gemeinde der Kinder Israel zu verkünden.
Raschi, der wahrscheinlich berühmteste Torakommentator aller Epochen, sieht das Gebot, „heilig zu sein“ in einem ganz anderen Licht. Für ihn ist Heiligkeit das Unterlassen von in der Tora verbotenen sexuellen Beziehungen. Hierfür spricht nach Raschi der unmitelbar vorausgegangene Abschnitt am Ende der Parascha Acharej Mot, in dem ganz deutlich vor diesen Beziehungen gewarnt wird. Dabei kommt mehrmals der Ausdruck „kadosch“, heilig, vor. Laut Raschi ist ein heiliger Mensch derjenige, der sich vom Verbotenen fernhält. Heiligkeit ist also eine Art Absonderung.
Aus all dem lässt sich eindeutig ein klarer Unterschied zwischen Ramban und Raschi herauskristallisieren. Ramban sieht in dem Gebot, „heilig zu sein“, die Aufforderung, aktiv zu handeln, sich ein höheres Ziel zu setzen und mit allen Kräften danach zu streben. Laut ihm sollte der Mensch sich nie mit dem Minimum an Geistigkeit begnügen, sondern sich in einem ständigen Prozess des Aufstiegs befinden. Dies alles ist eine zusätzliche Stufe zu den 613 Geboten. Raschi wiederum spricht vom passiven Handeln, davon, sich von den Gelüsten abzusondern, die die Tora ausdrücklich verboten hat. Doch die Weisen betrachten im Talmudtraktat Kidduschin das Unterlassen verbotenen Handelns nicht als passiv, sondern als Erfüllung eines positiven Gebotes. Somit ist diese Absonderung lediglich integraler Teil der Gebote und nicht wie Ramban es meint, eine zusätzliche Erschwerung bereits existierender Verpflichtungen.
Fest steht: Das Gebot „heilig zu sein“ ist sehr besonders, denn Heiligkeit ist eine Eigenschaft, die einzig und allein G’tt zugesprochen wird. Doch der Mensch hat die Möglichkeit bekommen, ebenfalls heilig zu sein, wie es steht: „… ihr sollt heilig sein, denn ich, der Ewige, euer G’tt, bin heilig“ (3. Buch Moses 19.2).
Der Autor ist Rabbiner und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz (ORD). Dieser Artikel erschien in der Jüdischen Allgemeinen.
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