Schutz für die Zukunft
Der Talmud lehrt, dass man sich an Gott wenden soll, bevor ein Problem auftritt.
Der Talmud lehrt, dass man sich an Gott wenden soll, bevor ein Problem auftritt
Im Alter von 75 Jahren verließ Awraham, der erste der Vorväter des jüdischen Volkes, das Haus seines Vaters und brach auf in das Land, das der Ewige ihm versprochen hatte. Dies war eine der größten Herausforderungen in Awrahams Leben: Er ließ alles Vertraute hinter sich, um in eine neue Heimat zu ziehen, die er noch nie gesehen hatte, und in eine Zukunft, die er nicht vorhersehen konnte. Trotz des Versprechens des Ewigen war dies eine besondere Herausforderung, die persönliche Größe erforderte.
Die Tora beschreibt Awrahams Ankunft wie folgt: »Sie zogen hinaus, um in das Land Kanaan zu gehen. Als sie nach Kanaan kamen, durchquerte Awram das Land bis zum Weihplatz von Schechem, bis zur Steineiche des Rechtweisers. Der Kanaaniter war aber damals im Land. Der Ewige zeigte sich Awram und sprach: Deinem Samen gebe ich dieses Land. Er baute dort einen Altar dem Ewigen, der sich ihm gezeigt hatte. Von da rückte er vor zum Gebirge, östlich von Bet-El, und spannte sein Zelt, Bet-El im Westen und Ai im Osten. Dort baute er dem Ewigen einen Altar und rief den Namen des Ewigen aus« (1. Buch Mose 12, 5–8).
ALTÄRE
Unmittelbar nach seiner Ankunft im Heiligen Land begann Awraham, das Land zu durchqueren, an verschiedenen Orten Altäre zu errichten und dort zu beten. Man könnte nun denken, dass all dies zufällige Orte waren. Die talmudische Auslegung (Sanhedrin 44b) deutet jedoch an, dass Awraham eine prophetische Vision hatte und die Orte dementsprechend wählte: »Rabbi Elasar sagte: Man verrichte ein Gebet stets vor Eintritt des Unglücks (das heißt: Man muss beten, bevor ein Problem auftritt), denn wenn Awraham nicht vorher zwischen Bet-El und Ai ein Gebet verrichtet hätte, so wäre von den Feinden Israels kein Rest und Entronnener geblieben (Rabbi Elasar bezieht sich auf die Schlacht gegen Ai, als das jüdische Volk unter Jehoschuas Führung das Land eroberte, vgl. Jehoschua 7 und 8)«.
Rabbi Elasars Meinung ist problematisch. Wie kann man wissen, dass an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit Schwierigkeiten auftreten werden? Wir sind keine Übermenschen und können nicht durch prophetische Visionen die Zukunft voraussehen. Möglicherweise war Awraham ein Prophet, aber wir, in unserer Generation, sind es sicherlich nicht. Wie können wir dann Schwierigkeiten mit einem Gebet zuvorkommen?
In der Tat trieb diese Frage viele jüdische Geistesgrößen um. Die Tora Temima, einer der faszinierendsten Torakommentare, befasst sich mit ebendieser Frage. Dieses Kommentarwerk ist das Opus magnum von Rabbi Baruch Halevi Epstein (1860–
1941). Es wurde erstmals 1902 veröffentlicht und versucht, eine Verbindung zwischen den Worten der schriftlichen und der mündlichen Tora herzustellen.
Der Stil des Kommentars ist faszinierend: Zuerst wird die talmudische Aussage, die sich direkt auf den Toravers bezieht, zitiert, und dann bringt Rabbi Epstein seine eigene Analyse, wie die Aussagen der mündlichen Tora direkt aus den Worten der schriftlichen Tora abgeleitet werden können.
Rabbi Epstein schreibt: »Es scheint mir, die Absicht hinter der Aussage (von Rabbi Elasar) ist, dass ein Mensch immer (für die Erlösung aus Schwierigkeiten) beten sollte, sogar wenn es dafür im Moment keine Notwendigkeit gibt. Denn er weiß nie, was die Zukunft bringen wird. Aber er weiß auch nicht, welches (jetzt von ihm gesagte) Gebet viel später seine Wirkung für ihn entfalten wird. So wie Awraham, der seine Gebete viele Generationen zuvor sagte, in Übereinstimmung mit dem Vers in Kohelet (11,1): ›Schicke dein Brot auf die Fläche des Wassers aus, dennoch, nach vielen Tagen findest du es wieder‹«.
KONSEQUENZEN
Rabbi Epstein lehrt uns etwas überaus Wichtiges: Wir sind oft sehr »kurzsichtig« und denken, dass unsere Taten nur für uns hier und jetzt Auswirkungen haben. Der Talmud fragt und antwortet: »Wer ist weise? Derjenige, der die Konsequenzen sieht!« (Middot 32a).
Die Konsequenzen zu sehen, bedeutet aber nicht, die Zukunft vorherzusehen, sondern zu verstehen, dass wir große Kraft haben, die Zukunft zu beeinflussen – nicht nur durch unsere Taten, sondern auch mit unseren Herzen, Gefühlen und wie wir diese zeigen. Wir haben eine unglaubliche Kraft, die Zukunft zu gestalten. Dafür müssen wir aber unsere »Kurzsichtigkeit« überwinden. Ein Mensch mag oft Schwierigkeiten haben, beim Beten Inspiration zu finden. Das Gebet im jüdischen Leben ist tägliche Routine, und wir befinden uns – G’tt sei Dank – nicht ständig in einem Zustand, in dem wir der Hilfe »von oben« bedürfen.
Wann immer man sich in dieser Situation befindet, sollte man sich der Worte Rabbi Elasars im Talmud erinnern und sich beim Gebet besonders konzentrieren, trotz der gerade scheinbar fehlenden Notwendigkeit.
GUTHABEN
Wir sollten uns bewusst machen, dass unsere Gebete uns in der Zukunft beschützen werden. Sie werden vielleicht sogar notwendig sein, um unsere Kinder, Enkel und kommende Generationen zu beschützen – so wie die Gebete von Awraham Awinu. Deshalb sollten wir darauf bedacht sein, auf unserem spirituellen Konto ein Guthaben anzuhäufen. Denn wir wissen nie, wann wir es einmal besonders nötig haben werden und von diesem Guthaben zehren können. (Und glücklicherweise unterliegen diese Konten nicht den herkömmlichen wirtschaftlichen Regeln.)
Unsere Gebete sind nicht nur Problemlöser, sie sind auch vorbeugende Maßnahmen! Und dies gilt besonders heute, da wir die turbulenten Zeiten, die vor uns liegen, bereits kommen sehen. Wir brauchen Gebete: für Frieden und für Wohlergehen. Nicht nur für uns, sondern auch für kommende Generationen.
Der Autor ist Mitglied der ORD. Dieser Artikel erschien in: Jüdische Allgemeine Wochenzeitung.
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