Verlangen des Herzens
Glaubt ernsthaft jemand, dass er Gott versteht? Wie kann also ein Mensch aus Fleisch und Blut Gott lieben?
Gebete und Mizwot sind mehr als bloße Rituale. Sie sollen uns näher zu G’tt bringen.
Viele von uns stehen jedes Jahr vor demselben Problem. Wieder einmal ist die Zeit der Hohen Feiertage gekommen, wieder einmal muss man sich schmerzhaft eingestehen, dass all die guten Vorsätze vom vergangenen Rosch Haschana leider nicht Realität geworden sind. Viele sind daher schon entmutigt, bevor das Neujahrsfest überhaupt angefangen hat.
Was können wir tun, um diesen Teufelskreis zu durchbrechen? Ein Blick in unseren Wochenabschnitt hilft uns weiter. Im 5. Buch Mose 30, 11–14 lesen wir, dass G’ttes Gebote dem Menschen zugänglich sind: »Denn dieses Gebot, dass Ich dir heute gebiete, es ist deinem Verständnis nicht zu hoch und es liegt nicht in der Ferne (…), denn nahe ist dir die Sache ungemein, mit deinem Mund und mit deinem Herzen es zu vollbringen.«
VERSTÄNDNIS
Es wäre bequem, anzunehmen, dass diese Verse eine »Yes we can«-Nachricht all denen überbringen soll, die an der praktischen Machbarkeit der Tora und ihrer Gesetze zweifeln. Es wäre schön, wenn die Tora Verständnis dafür zeigte, dass nicht alle Menschen die Mizwot erfüllen können. So angenehm das auch wäre, aber so sind diese Verse ganz bestimmt nicht gemeint. Die Tora spricht hier nicht von allen 613 Ge- und Verboten, sondern von einem einzigen.
Aber diese ganze These ist völlig abwegig. Wäre es überhaupt denkbar, dass sich G’tt derart vertan hätte, dass auch nur ein einziges seiner Gesetze nicht umzusetzen wäre? Nein, wenn G’tt etwas von uns verlangt, muss es realisierbar sein. Aber über welches Gebot reden wir eigentlich? Im vorangegangen Vers (30,10) werden zwei Gebote angeführt: Das erste ist die Verpflichtung zur Exaktheit, wenn es um das Lernen der Tora geht. Das zweite ist, aus Liebe zu G’tt umzukehren. Welches der beiden Gebote ist gemeint? Könnte es sich auf das Verständnis der Tora beziehen? Ist ein solches Verständnis einfach zu erlangen?
Jeder Mensch wird mit einem unterschiedlich hohen Intelligenzquotienten (IQ) geboren. Kann jemand, der nur einen sehr niedrigen hat, wirklich alle komplizierten Details der Tora vollständig durchdringen? Und selbst wenn man mit einem hohen IQ gesegnet ist, hat jeder Mensch wirklich Zeit, um den Großteil des Tages mit dem Lernen der heiligen Schriften zu verbringen?
Es ist richtig, zu sagen, dass sich jeder ein Verständnis der Tora erarbeiten kann, ganz gleich, wie hoch sein Intelligenzquotient ist und wie viel Zeit er hat. Ein tiefes und umfassendes Verständnis bleibt aber für die meisten nur ein Ideal, nach dem man streben kann.
LIEBE
Und wie sieht es mit dem zweiten Gebot aus, der Rückkehr zu G’tt aus Liebe? Sie scheint auf den ersten Blick ein Widerspruch zu sein. Liebe, zumindest wie wir sie normalerweise verstehen, setzt eine gewisse Ähnlichkeit zwischen dem Liebenden und dem Geliebten voraus. Egal wie sehr wir es uns wünschen, es gibt keine Ähnlichkeit zwischen uns und G’tt, zwischen etwas Sterblichem und etwas Unendlichem.
Eine weitere Möglichkeit der Liebe ist, wenn man den Geliebten vollständig und komplett versteht. Aber: Glaubt ernsthaft jemand, dass er G’tt versteht? Wie kann also ein Mensch aus Fleisch und Blut G’tt lieben?
Der Rambam (1135–1204) schreibt in den Hilchot Teschuwa, dass das Studium der Gestirne den Menschen dahin bringen wird, G’tt zu lieben. Man könnte auch annehmen, dass sich die Liebe zu G’tt nur an einem heiligen Ort wie dem Tempel spüren lässt. Unsere Verse warnen uns vor solch falschem Denken. »Es ist nicht im Himmel«, lesen wir in Vers 12. Die Liebe zu G’tt ist also weder an das Studium der Gestirne noch an einen bestimmten Ort gebunden.
VERBINDUNG
Uns ist in unserer Analyse ein Fehler unterlaufen. Wir haben mit G’tt mehr gemein, als wir uns vorstellen können. Obwohl es stimmt, dass wir nichts lieben können, was wir nicht verstehen, ist die Beziehung innerhalb einer Familie, speziell von Eltern und Kindern, doch eine Ausnahme. Selbst wenn Eltern und Kinder einander begegnen, die sich vorher nie gesehen haben, wird zwischen ihnen eine Verbindung spürbar sein.
Sie fühlen in diesem Moment, dass sie ein Teil von sich sehen. Das Gleiche gilt auch für unsere Beziehung mit G’tt. Obwohl wir Ihn auf einer intellektuellen Ebene nicht greifen können, spüren wir doch ein Band von Vater zu Sohn oder Tochter. Er scheint uns unergründbar zu sein, doch wir erkennen uns in Ihm. Unsere Verse verdeutlichen dies.
Warum kann G’tt nicht nur in den Weiten des Universums gefunden werden, warum kann man Ihn nicht nur an heiligen Orten wie dem Jerusalemer Tempel erleben? Die Antwort ist, dass G’tt selbst uns dies versichert: »denn nahe ist dir die Sache (…), mit deinem Munde es zu vollbringen« (30,14).
LIEDER
Unsere Lippen führen uns näher zu Ihm, durch unsere Gebete und das Lernen der Tora. Beide Dinge bringen uns dazu, Ihn zu lieben. Sie sind keine Zaubersprüche, kein magisches Hokuspokus. Das einfache, fast schon mechanische Sagen von Wörtern bringt einen nicht zur G’ttesliebe. Diese Wörter, diese Lieder müssen »in deinem Herzen, es zu vollbringen« sein. Die Liebe wird nur dann durch die Wörter des Gebets und des Lernens kommen, wenn es ein tiefes Verlangen des Herzens ist, Ihn zu lieben.
Das Geheimnis, mehr aus den Hohen Feiertagen zu machen, ist, die Gebete und Vorschriften nicht nur als Rituale zu sehen. Vielmehr sollten wir sie als Ausdruck betrachten, G’tt nahe zu sein.
Der Autor ist Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz (ORD). Dieser Artikel erschien in der Jüdischen Allgemeinen.
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