Die „Brücke des Lebens“

Diese Welt gleicht einer Vorhalle vor der zukünftigen Welt. Bereite dich in der Vorhalle vor, dass du in den Königssaal eintreten darfst.

5 Min.

Rabbiner Jaron Engelmayer

gepostet auf 04.04.21

„Und Sara starb zu Kirjath Arba… und Awraham ging hin und trauerte um Sara und beweinte sie… Danach begrub Awraham seine Frau Sara in der Höhle auf dem Felde zu Machpela…“ (1. Buch der Torah, 23, 2; 23, 19)

 

 

Die Würde des menschlichen Körpers

 

„Wenn jemand eine Sünde begangen hat, auf die Todesstrafe steht, und man hat ihn getötet und an einen Galgen gehängt. So soll sein Leichnam nicht über Nacht am Galgen bleiben, sondern am selben Tage noch sollst du ihn begraben, denn eine Entwürdigung G’ttes ist ein Gehängter, und du sollst den Boden nicht verunreinigen, den der Ewige, dein G’tt, dir zum Erbbesitz gibt.“ (5. Buch der Torah, 21, 22-23)

 

Diesen Sätzen der Torah entnehmen wir die Pflicht, einen verstorbenen Menschen zu beerdigen. Die Würde des menschlichen Körpers nimmt dabei höchsten Stellenwert ein. Obwohl wir gerade beim Ableben eines Menschen besonders miterleben, wie vergänglich und wertlos alles Körperliche ist, räumen wir dem menschlichen Körper trotzdem einen besonderen Wert ein: der Seele zeitlebens als treues Gefäß gedient zu haben! Der Zustand der Seele ist eng mit dem Zustand des Körpers verbunden. Werden beide gut behütet, ist das Leben lebenswert. Deshalb steht es dem menschlichen Körper zu, als g’ttliches Geschenk und Werkzeug in der Hand des Menschen, bis zuletzt gewürdigt zu werden. Diese Ehre, diesen Respekt gegenüber dem Körper, lassen wir ihm auch nach dem Ableben anhand der jüdischen Bestattungsbräuche zukommen.

 

Kremation zum Beispiel ist ein großes Vergehen an dieser Würde. Der Körper soll möglichst unangetastet und vollständig begraben werden. Davor wird er sorgfältig und gründlich gewaschen. Diese Aufgabe nimmt die „Chewra kadischa“ wahr, die damit ein großes g’ttliches Gebot der Güte erfüllt. In einfache weiße Leinentücher gehüllt wird der Körper des Verstorbenen schnellstmöglich in einem schlichten Holzsarg, hierzulande, (im Gegensatz zu Israel, wo ohne Sarg begraben wird,) begraben. Wie den obigen Sätzen zu entnehmen ist, sollte die Beerdigung möglichst am selben Tage stattfinden, was nur aus wenigen bestimmten Gründen (z. B. Anreise nächster Verwandter) und in Absprache mit einem Rabbiner zu verschieben ist. Leider lässt sich diese Regel hierzulande aus gesetzlichen Gründen nicht überall vollkommen der Halachah gemäss einhalten.

 

Die Bestattung nach jüdischen Bräuchen und auf dem jüdischen Friedhof abzuhalten ist enorm wichtig. Die Zugehörigkeit zum jüdischen Volk und seinen Wurzeln hört beim Ableben nicht auf, im Gegenteil! Eng verbunden mit einem jüdischen Begräbnis ist auch der Glaube an die gemeinsame Wiederauferstehung der Toten, zu Zeiten der Erlösung! Der Glaube an die Auferstehung der Toten ist im Judentum so wesentlich, dass er von Maimonides als einer der dreizehn Glaubensgrundsätze, welche das Judentum definieren, aufgenommen wurde. Auch mit diesem Glaubensgrundsatz verbunden ist das Gebot der ewigen Ruhe: ein Begrabener darf grundsätzlich nicht behelligt oder gar ausgegraben werden, für immer! Ausnahmen bilden dabei bestimmte spezielle Gründe, einen Verstorbenen an einem anderen Ort begraben zu wollen.

 

 

Die letzte Ehre – Trauerbräuche

 

Die Beerdigungszeremonie wird vom Rabbiner oder einem Stellvertreter geleitet. Jedoch ist die Rolle der Anwesenden nicht weniger wichtig. Einen Toten auf seinem letzten Weg zu begleiten ist ein besonderer Akt der Güte, genauso wie alle Taten, die wir zu seiner Ehrung begehen, da wir von ihm keine Gegenleistung erwarten können. Besondere Bedeutung hat die Anwesenheit mindestens zehn jüdischer Männer, die ein Minjan bilden und somit ermöglichen, den Kadisch, das spezielle Totengebet, für den Verstorbenen zu sagen.

 

Während der Beerdigung und in der folgenden Zeit darauf gibt es verschiedene Trauerbräuche, mit denen man einerseits den Verstorbenen ehrt, andererseits der inneren Trauer Ausdruck verleiht. Zu Beginn der Beerdigungszeremonie ist es Brauch, dass die Trauernden (d.h. die engste Familienmitglieder: Eltern, Geschwister, Kinder und Ehepartner) ihr Oberkleid (z.B. Hemd oder Pullover) ein Stück weit einreißen lassen. Damit gibt man seiner Trauer Ausdruck und symbolisiert gleichzeitig, dass alles Körperliche vergänglich ist. Nach der Beerdigung beginnt die Trauerwoche. Während der in der Regel folgenden sechs Tage soll man nicht zur Arbeit, etc., gehen, sondern zu Hause im Kreise der Familie und Freunde verweilen und den Verlust gemeinsam verarbeiten. Als Zeichen der Trauer sitzt man auf niedrigen Sitzgelegenheiten, trägt keine Lederschuhe, wäscht sich nicht, trägt keine neue Kleidung, verhängt Spiegel und Fotos, hört keine Musik und zündet im Andenken an den Verstorbenen eine Kerze an. Diese Bräuche ermöglichen es, nach der Trauerzeit den Einstieg ins Leben wieder zu finden, indem man den Verlust gebührend verarbeitet, denn man soll nicht lebenslänglich durch die Trauer gebunden bleiben. Während des ersten Monates (und bei Verlust der Eltern während des ersten Jahres) befindet man sich weiterhin in der Trauerzeit, und ein Teil der Bräuche haben weiterhin ihren Platz: keine freudigen Anlässe zu besuchen (ausgenommen die offiziellen jüdischen Feiertage), sich nicht die Haare schneiden zu lassen und sich nicht zu rasieren (auch bei Eltern einen Monat lang).

 

Den Kadisch sagt man während der gesamten Trauerzeit so oft es geht, immer wenn sich ein Minjan zum Gebet versammelt. Damit heiligt man den Namen G’ttes auf Erden, was gerade im Angesicht des Verlustes eine tiefe Bedeutung erhält und für den Verstorbenen zum großen Verdienst gereicht, wenn seine Angehörigen für ihn in der Gemeinschaft den Kadisch sagen. Unsere Weisen überbringen uns sogar die Überlieferung, dass man mit dem Kadisch für den Verstorbenen Sühne erreichen und ihn vor Strafen der künftigen Welt bewahren kann. Auch nach der Trauerzeit wird von den Angehörigen jedes Jahr zur „Jahrzeit“ (jährlich kehrender Jahrestag nach dem Ableben) der Kadisch gesagt. Außerdem gibt es verschiedene weitere Bräuche zum Andenken an den Verstorbenen: Das „Jiskor“ (Gedenkgebet, welches vier Mal im Jahr gesprochen wird: am letzten Tag Pesach, am zweiten Tag Schawuot, an Jom Kippur und an Schemini Azeret) in der Synagoge mitzusagen, zur Jahrzeit ein Lernen zu veranstalten… Verschiedenen Ortes gibt es auch den Brauch, der Gemeinde einen Kidusch zu spenden oder etwas Alkoholisches anzubieten. Besondere Bedeutung kommt jedoch der Wohltätigkeit zu, welche im Andenken an den Verstorbenen getätigt wird. Dies sind die jüdischen Traditionen, mit denen wir für verstorbene Angehörige und in ihrem Andenken etwas Nachhaltiges tun können…

 

 

Zwischen Leben und Leben

 

Den Artikel haben wir nach dem gleichnamigen Buch des Rabbiners Tokchinski, welches sich ebenfalls mit den Trauerbräuchen im Judentum befasst, „Brücke des Lebens“ genannt. Dieser Titel für dieses Thema ist sehr sorgfältig gewählt und tiefsinnig, denn damit kommt zum Ausdruck, dass das Ableben eines Menschen für den gläubigen Juden nicht das Ende bedeutet, sondern ein Übergang, eine Brücke zwischen einer Form des Lebens und einer anderen. Wenn auch unsere Sinne nur diese unsere materielle Welt erfassen können, und nur diese Form von Leben uns bekannt ist, so glauben wir dennoch an unsere Seele und können sie in uns wahrnehmen. Diese Seele wird durch die Bindung an das Körperliche in dieser Welt beschränkt. Erst wenn sie sich vom Körper löst und ihren Platz in ihrer eigenen Welt, der Welt der Seelen, einnimmt, ist sie frei! Erst dann beginnt für sie die Zeit ihrer wirklichen Entfaltung, in ihrer eigenen Welt. Mit den Worten unserer Weisen ausgedrückt: „Diese Welt gleicht einer Vorhalle vor der zukünftigen Welt. Bereite dich in der Vorhalle vor, dass du in den Königssaal eintreten darfst… besser eine Stunde der Seelenruhe in der zukünftigen Welt, als das ganze Leben dieser Welt.“ (Sprüche der Väter 4, 21-22) Mögen alle Trauernden Zijons und des jüdischen Volkes in diesen Worten ein bisschen Trost finden…

 

 

Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Aachen und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD).

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