Von Nächstenliebe und Wohltätigkeit im Judentum

Was geschieht, wenn der Mensch sich selbst nicht liebt, gar sich hasst? Darf das sein Handeln dem Nächsten gegenüber dann auch bestimmen?

4 Min.

Dr. Michael Rosenkranz

gepostet auf 04.04.21

Im Midrasch Sifra wird von einer Diskussion zwischen Rabbi Akiba und Rabbi ben Asai berichtet, worin der Hauptsatz der Torah (Fünf Bücher Moses) bestehe. Rabbi Akiba meint, es sei der Satz »Liebe deinen Nächsten wie dich« (3. B.M. 19, 18b). Rabbi ben Asai ist dagegen der Meinung, der Satz „Dies ist das Buch der Abstammung des Menschen …“ (1. B.M. 5, 1) sei ein noch wichtigerer Satz.
 

Wie das?

Was geschieht, wenn der Mensch sich selbst nicht liebt, gar sich hasst?

Darf das sein Handeln dem Nächsten gegenüber dann auch bestimmen?
 

Die Fortsetzung des Satzes aus dem Ersten Buch Moses aber lautet: »Am Tag, als G-tt einen Menschen erschuf, bildete Er ihn im Ebenbild G-ttes«.
In jedem Mitmenschen begegnen wir also dem Ebenbild G-ttes, und es heißt im jüdischen Glaubensbekenntnis: »Liebe den Ewigen, deinen G-tt, mit deinem ganzen Herzen, deiner ganzen Seele und deinem ganzen Vermögen.« (V. B.M. 6, 5) und begegne deinem Nächsten, in dem dir das Ebenbild G-ttes erscheint, in eben dieser Weise, (- gleichgültig, was du von dir selber hältst). Allerdings bist auch du selber das Ebenbild G-ttes, – liebe und achte du daher auch dich selber.

 

Liebe zu G-tt bedeutet aber, Seine Schöpfung und Seine Geschöpfe zu achten; G-ttes Willen zu erfragen, ihn ernst zu nehmen, bereit zu sein, ihn zu erfüllen; G-tt nachzueifern. In welcher Weise können wir Ihm nacheifern?

 

Im jüdischen Hauptgebet, in der so genannten Amidah, wird der Ewige dafür gepriesen, dass Er die Lebenden in Liebe versorgt, Tote mit großer Barmherzigkeit wiederbelebt, Fallende stützt, Kranke heilt, Gefesselte befreit und Seine Treue denen bewahrt, die im Staube schlafen. Dies ist unsere Vorlage, und es heißt ferner: »Wenn dein Bruder neben dir sinkt und seine Hand schwach wird, dann stütze ihn, sei er auch ein Fremder oder ein Halbbürger, aufdass er an deiner Seite lebe.« (3. B.M. 25, 35) Jeder also, der im Ebenbild G-ttes erschaffen wurde, ist unser Bruder, ist unsere Schwester, denen wir mit Achtung und Respekt gegenüber treten sollen. Wir müssen sie nicht lieben, wenn wir es nicht können, müssen sie aber würdigen, sie anständig behandeln. Und wir müssen dafür sorgen, dass sie an unserer Seite ohne Not leben können. Dies ist die Basis für das jüdische Wohlfahrtswesen.

 

Doch Fürsorge kann auch erdrücken, beschämen, unselbständig machen und also Schaden anrichten. Das sollte nicht geschehen. Grundsätzlich sollte Fürsorge die eigenständige Lebensfähigkeit des Nächsten zum Ziel haben, nicht Abhängigkeit erzeugen. Fürsorge sollte nicht der Eitelkeit des Helfenden dienen und darf niemals die Würde des Empfängers verletzen, ihn nicht beschämen, ihm nicht Dankbarkeit abverlangen. Andererseits darf Fürsorge auch nicht zur Selbstaufopferung und Selbstschädigung des Fürsorgenden führen, denn er hat auch sich selbst gegenüber eine Bewahrungspflicht. Rabbi Moscheh ben Maimon, genannt Maimonides, definierte in seinem großen Werk Mischneh Torah die Wohltätigkeit als in acht Stufen steigerbar:

 

  • Unterste Stufe: Die unfreundliche Gabe, die den Empfänger verletzt oder          beschämt.
  • Zweite Stufe: Die freundliche, aber unzureichende Gabe.
  • Dritte Stufe: Die Gabe auf Verlangen hin.
  • Vierte Stufe: Die unaufgeforderte Gabe.
  • Fünfte Stufe: Bewahrung der Anonymität des Empfängers.
  • Sechste Stufe: Bewahrung der Anonymität des Spenders.
  • Siebte Stufe: Bewahrung der Anonymität sowohl des Empfängers als auch      des Spenders.
  • Achte und höchste Stufe: Hilfestellung zur selbstständigen Lebenserhaltung.

 

Und Maimonides empfahl, dass der Spender nicht mehr als 20 % seines Vermögens gebe, um nicht womöglich selbst fürsorgebedürftig zu werden; allerdings sollte er auch nicht weniger als 5 % geben, am besten etwa 10 %, und dies nach Möglichkeit ungenannt.

 

Im Idealfall hat jeder Mensch ein großes Herz und hilft so gut er kann.
In der Wirklichkeit funktioniert das nicht immer.

Auf Freiwilligkeit, Großzügigkeit und Unparteilichkeit kann man sich nicht immer verlassen. Es bedarf oft organisatorischer Strukturen, um dem Einzelnen die Möglichkeit zum Helfen zu geben, anderseits die Würde der Empfänger zu wahren und schließlich die Versorgung der Bedürftigen zu sichern und dies nicht vom Wohlwollen einzelner abhängig zu machen.

 

Es bildeten sich daher in jüdischen Gemeinden Wohltätigkeitseinrichtungen aus, die einerseits für die notwendige Infrastruktur der Hilfe sorgen (Küchen, Kleiderkammern, Ausstattung bedürftiger Bräute, Krankenbesuche und –versorgung, Altenbetreuung, Beistand für Sterbende und Versorgung Verstorbener und ihrer Hinterbliebenen und anderes mehr) und anderseits die Aufrechterhaltung und Kontinuität der Versorgung und ihre gerechte Verteilung gewährleisten. Neben persönlicher Hilfe in der jeweiligen Situation kann hier jeder sich entweder ehrenamtlich und/oder als Spender einbringen.

Außerdem aber wurden dem Menschen von der Torah verschiedene Pflichtabgaben auferlegt, um die Versorgung der Bedürftigen zu sichern, auch wenn keine Spendenbereitschaft bestehen sollte.

 

Damit soll jeder Einzelne verstehen, dass nicht alles, was ein Mensch von G-tt erhält, nur für ihn alleine ist, es ihm vielmehr zur Erfüllung seiner Fürsorgepflicht gegeben wurde. Ein Feld darf nicht vollständig abgeerntet werden, eine Feldecke muss für die Armen übrig gelassen werden (3. B.M. 19, 9-10), beim Herunterschütteln der Oliven vom Baum darf man hinterher nicht Ast für Ast nachlesen, – das Verbliebene gehört den Armen (5. B.M. 24, 19-22), in jedem dritten Jahr gehört der zehnte Teil des Ertrags den Bedürftigen (5. B.M. 14, 28-29), abgesehen vom zehnten Ertragsanteil, der jährlich zur Erhaltung der öffentlichen Einrichtungen und ihrer Bediensteten (vormals der Tempel und die Leviten) abzugeben ist (5. B.M. 14, 22-27).

 

Die Bewahrung, Behütung und Fürsorge von und für G-ttes Schöpfung, die auch unsere eigene Lebensgrundlage ist, umfasst jedoch nicht nur den Menschen, – sowohl den Mitmenschen als auch uns selbst -, sondern auch das Tier, die Pflanzen und die ganze Erde. Und so werden in der Torah hierzu sehr detaillierte Hinweise gegeben:

 

zu einem selbst:

das Gebot, sich zu freuen (3.B.M. 23, 40; V. B.M. 14, 26). Freude tut gut und ermöglicht Dankbarkeit und bildet die Grundlage für die Liebe zur Schöpfung.

 

gegenüber dem Mitmenschen:

Schutz der Armen, der Waisen, der Witwen, der Fremden; Fürsorge gegenüber Behinderten; Ehrfurcht vor alten Menschen; korrektes Verhalten gegenüber dem Tagelöhner, dem Schuldner, dem Schuldigen, dem Feind; Gebot der Schabbat-Ruhe für alle Menschen.

 

gegenüber der Kreatur und der Schöpfung:

Respekt vor den Bedürfnissen und Eigenheiten der Tiere und Pflanzen; Verbot der Tiermisshandlung und der Artenausrottung; Gebot der Schabbat-Ruhe auch für Tiere und die Erde.

 

In unserer heutigen Zeit, in der der Mensch mehr als früher in der Lage ist, die Schöpfung zu zerstören, ist es besonders wichtig, die Fürsorgepflicht auch gegenüber Tieren, Pflanzen und der unbelebten Natur zu erkennen und zu erfüllen.
Was aber unterscheidet die Wohltätigkeit (hebr. Tsedaqah/Zedaka) von der Liebe (hebr. Chessed)? Die Weisen lehrten:

Wohltätigkeit geschieht durch Geld, Taten der Liebe geschehen sowohl durch die Person, als auch durch Geld. Wohltätigkeit gilt den Armen, Taten der Liebe gelten sowohl den Armen als auch den Reichen. Wohltätigkeit gilt den Lebenden, Taten der Liebe gelten sowohl den Lebenden als auch den Toten. Und: Wohltätigkeit wird nur nach dem Maß der Liebe vergolten, die darin enthalten ist.

 

Das Wort Zedaka bedeutet Herstellung eines gerechten Ausgleichs, Chessed liebevolle Zuwendung.

 

 

Dieser Artikel erschien auf der Seite talmud.de

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