Fragen des himmlischen Gerichtes
Rabas Liste der Fragen des himmlischen Tribunals sind für uns deshalb sehr wichtig, weil sie uns eine Orientierungshilfe geben.
Was erwartet einen Menschen nach seinem Tod? Rabbi Elasar Hakappar stellt in einer Mischna fest, dass jeder Mensch dann vor Gottes Tribunal erscheinen wird: „Es beruhige dich nicht dein böser Trieb, dass die Gruft eine Zufluchtsstätte dir sei, denn unfreiwillig wurdest du gebildet, unfreiwillig wurdest du geboren, unfreiwillig lebst du und unfreiwillig stirbst du; und unfreiwillig musst du einst Rechenschaft und Rechnung ablegen vor dem König aller Könige, dem Heiligen, gelobt sei Er“ (Sprüche der Väter 4,29).
Im Talmud (Schabbat 31a) sind ein halbes Dutzend Fragen aufgelistet, die das himmlische Gericht interessieren: „Raba sagte: Wenn man den Menschen zu Gericht bringt, fragt man ihn: Hast du deinen Handel in Redlichkeit betrieben? Hast du Zeiten für die Tora festgelegt? Hast du dich mit Fortpflanzung beschäftigt? Hast du auf das Heil gehofft? Hast über Weisheiten diskutiert? Hast du verstanden, Sache auf Sache zu folgern?“
Bemerkenswert ist, dass die allererste Frage sich auf die Redlichkeit im Handel bezieht. Warum kommen zwischenmenschliche Angelegenheiten vor solchen Themen zur Sprache, die das Verhältnis zwischen Mensch und Gott betreffen? Rabbiner Abraham Samuel Benjamin Sofer, Verfasser der Responsa „Ktav Sofer“ (1815-1871) antwortete: Die Erfüllung zahlreicher Gebote hängt davon ab, dass das aufgewendete Geld redlich verdient wurde. Wer z.B. durch Täuschung erworbenes Geld für wohltätige Zwecke ausgibt, der hat keine gottgefällige Handlung getan!
Wenden wir uns nun der zweiten Frage zu: „Hast du Zeiten für die Tora festgesetzt?“ Der Mensch wird nicht gefragt, ob er überhaupt Tora studiert habe. Man will von ihm wissen, ob er bestimmte Zeiten für das Tora-Studium festgelegt hatte. Wie Raschi erklärt, ist jeder verpflichtet, einem Beruf nachzugehen, um den Lebensunterhalt zu verdienen. Es entsteht die große Gefahr, dass man den ganzen Tag mit geschäftlichen Aktivitäten ausfüllt. Daher die Pflicht, für das gebotene Tora-Lernen feste Zeiten zu bestimmen. Im Fall, dass gelegentlich etwas dazwischenkommt, sollte man die ausgefallene Lernzeit später nachholen (Mischna Berura 155, Note 4).
Die Frage „Hast du dich mit Fortpflanzung beschäftigt?“ scheint eindeutig zu sein. Für den Weiterbestand seines Volkes zu sorgen, ist ohne Zweifel von immenser Bedeutung. Erwähnenswert ist ein Kommentar von Rabbiner Schmuel Elieser Edels, bekannt als der Maharscha (1555-1631): „Es heisst nicht: Hast du das Gebot der Fortpflanzung erfüllt? Sondern: Hast du dich mit Fortpflanzung beschäftigt? – das meint: Waisenkinder zu verheiraten!“ Der Mensch wird also nach Maharschas Interpretation vom himmlischen Gericht gefragt, ob er für die Verheiratung von Waisenkindern gesorgt habe!
Was meint die vierte Frage: „Hast du auf das Heil gehofft?“ Raschi erklärt, man sei verpflichtet zu hoffen, dass die Worte der Propheten in Erfüllung gehen werden. Daher sagen manche Juden täglich nach dem Morgengebet: „Ich glaube mit voller Überzeugung an das Kommen des Messias. Obwohl er säumt, warte ich trotzdem jeden Tag, dass er komme.“ Dieser Glaubenssatz wurde übrigens zur Hymne derjenigen, die die Schoa überlebt haben.
Die letzten zwei Fragen beziehen sich auf die Qualität des zu Lebzeiten ausgeübten Tora-Studiums: „Hast du über Weisheiten diskutiert? Hast du verstanden, Sache aus Sache zu folgern?“ Das Lernen von Tora-Passagen muss stets mit Sinn und Verstand erfolgen. Beim Tora-Studium soll der Mensch den Text nicht nur einfach wiederholen, sondern vielmehr in die Tiefe zu dringen suchen und dabei möglichst auch Schlüsse für die Praxis ziehen. Diese Aufgabe zu erfüllen, ist gewiss nicht leicht.
Rabas Liste der Fragen des himmlischen Tribunals sind für uns deshalb sehr wichtig, weil sie uns eine Orientierungshilfe geben. Nun wissen wir, auf welche Punkte wir in unserem Leben in dieser Welt besonders achten müssen, damit wir nach dem Tod nicht völlig überrascht sind und in eine tiefe Verlegenheit geraten. Dann ist es für Korrekturen zu spät!
Der Autor ist Psychologe und hat an der Universität Köln gelehrt.
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