Umkehr eines Sexsüchtigen
Nachträglich können Psychologen heute die Diagnose eines im Talmud beschriebenen Falles stellen. Über einen willensstarken Mann wird berichtet ...
Nachträglich können Psychologen heute die Diagnose eines im Talmud beschriebenen Falles stellen. Über einen willensstarken Mann wird berichtet: „Man erzählt von Rabbi Elazar Ben Dordaja, dass er keine Hure in der Welt zurückließ, die er nicht beschlafen hätte. Als er einst hörte, dass es in einem überseeischen Lande eine Hure gäbe, die einen Beutel voll Dinare als Lohn nimmt, nahm er einen Beutel voll Dinare und passierte ihretwegen sieben Flüsse.“ Elazar Ben Dordajas Verhalten legt die Vermutung nahe, dass er sexsüchtig war.
Der Besuch bei der hochpreisigen Hure verlief jedoch nicht so, wie der Freier sich die Begegnung erträumt hatte: „Bei der Vollziehung der Sache hatte sie eine Blähung und sprach:´Wie wenig diese Blähung zu ihrer Stelle zurückkehren wird, so wenig wird man Elazar Ben Dordaja durch Buße wieder aufnehmen.`“ Diese frivole Bemerkung hat Elazar Ben Dordaja offensichtlich erschüttert und wachgerüttelt: Ist ihm der Weg der Umkehr (hebr.: Teschuwa) wirklich versperrt?
Was tat Elazar Ben Dordaja?: „Er ging fort und setzte sich zwischen zwei Berg- und Hügelreihen und sprach: Berge und Hügel, bittet für mich um Erbarmen! Sie erwiderten ihm: Ehe wir für Dich bitten, wollen wir für uns selbst bitten, denn es heisst:´Berge werden weichen und Hügel werden wanken` (Jesaja 54,10). Da sprach er: Himmel und Erde, bittet für mich um Erbarmen! Sie erwiderten: Eher wir für Dich bitten, wollen wir für uns selbst bitten, denn es heisst: ´Der Himmel wird wie Rauch zerstieben und die Erde wie ein Gewand zerfallen` (Jesaja 51,6). Da sprach er: Sonne und Mond, bittet für mich um Erbarmen! Sie erwiderten ihm: Eher wir für Dich bitten, wollen für uns selbst bitten, denn es heisst: ´Der Mond wird sich schämen und die Sonne zu Schanden werden´ (Jesaja 24,23). Da sprach er: Sterne und Sternbilder, bittet für mich um Erbarmen! Sie erwiderten ihm, ehe wir für Dich bitten, wollen für uns selbst bitten, denn es heisst: ´Und das ganze Heer des Himmels wird zergehen`“ (Jesaja 34,4).
Aus den gleichlautenden Antworten, die ihm Berge und Hügel, Himmel und Erde, Sonne und Mond sowie Sterne und Sternbilder gaben, zog Elazar Ben Dordaja einen wichtigen Schluß: „Ich bin nun auf mich selbst angewiesen! Da senkte er sein Haupt zwischen die Knie und schrie weinend so lange, bis seine Seele ausfuhr. Da erscholl eine Hallstimme und sprach: Rabbi Elazar Ben Dordaja ist für das Leben der zukünftigen Welt vorgesehen!“ (Awoda Zara 17a).
Dass eine solche pikante Geschichte im Talmud vorkommt, dürfte viele Leser verblüffen. Die zitierte Passage wirft in der Tat einige Fragen auf: „Man erzählt von Rabbi Elazar Ben Dordaja“ – war der sexsüchtige Mann ein ordinierter Tora-Lehrer? Rabbiner Mosche Feinstein verneint diese Frage; er bemerkt, dass Elazar Ben Dordaja der Titel Rabbi erst postum verliehen wurde (Responsa Igrot Mosche, Jore Dea Band 1, Nr. 135). Warum bekam der Hurenbock diesen Ehrentitel? Weil er sich aus den tiefsten Niederungen befreit hat und den Weg der Teschuwa einschlug.
Die Passage, in der Elazar Ben Dordaja Naturerscheinungen anfleht, für ihn um Erbarmen zu bitten, bedarf einer Erläuterung. Wie kann man sich das vorstellen, dass Berge und Hügel sowie Sonne und Mond Verse des Propheten Jesaja zitieren? Die Tosafot zu unserer Stelle sowie zu Chullin 7a erklären, dass der talmudische Text einen inneren Monolog schildert. Elazar Ben Dordaja dachte, dass die angesprochenen Naturerscheinungen so ihm hätten antworten können. Am Ende seiner Überlegungen zog er den Schluss: „Ich bin auf mich selbst angewiesen!“ In einer psychotherapeutischen Behandlung braucht der Klient oft viele Stunden, bis er zu dieser Erkenntnis gelangt.
Erwähnenswert ist ein im Talmud überlieferter Kommentar von Rabbi (=Rabbi Jehuda HaNassi) zu Elazar Ben Dordajas Geschichte: „Rabbi weinte und sprach: Mancher erwirbt seine Welt in vielen Jahren, mancher aber erwirbt sie in einer Stunde! Ferner sagte Rabbi: Nicht genug, dass man die Bußfertigen aufnimmt, sondern man nennt sie auch Rabbi.“ Warum weinte Rabbi? Er hätte sich doch freuen sollen, dass der Liebhaber aller Huren am Ende seines Lebens Teschuwa machte! Rabbiner Menachem Mendel Taub (Jahrgang 1923), besser bekannt als der Kaliwer Rebbe, erklärte einmal Rabbis Tränen wie folgt: Die Geschichte von Elazar Ben Dordaja lehrt, dass ein Bußfertiger seine Welt in einer Stunde erwerben kann – und doch gehen viele Sünder nicht den Weg der Teschuwa! Ist das nicht zum Weinen?
Der Autor ist Psychologe und hat an der Universität Köln gelehrt.
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