Bindung an Talmidej Chachamim

Dass man sich der Gottheit anschließen soll, sagt die Tora mehr als nur einmal, wohl zur Hervorhebung dieser Mitzwa.

3 Min.

Prof. Dr. Yizhak Ahren

gepostet auf 15.03.21

Dass man sich der Gottheit anschließen soll, sagt die Tora mehr als nur einmal, wohl zur Hervorhebung dieser Mitzwa.

 

Ohne die Erklärung des Talmuds (Ketubot 111 b) wüßten wir aber nicht, wie man dieses Tora-Gebot erfüllen kann: „Ihr aber, die ihr an den Ewigen, Eurem Gotte, hanget, seid alle heute am Leben (5. Buch Mose 4,4). Ist es denn möglich, der Gottheit anzuhängen, es heißt ja: Denn der Ewige, Dein Gott, ist ein verzehrendes Feuer (5. Buch Mose 4,24)? Vielmehr, wer seine Tochter an einen Schriftgelehrten (hebr.: Talmid Chacham) verheiratet, Talmidej Chachamim die Geschäfte besorgt, und Talmidej Chachamim von seinem Vermögen genießen läßt, dem rechnet es die Schrift an, als würde er sich der Gottheit anschließen.“

 

Der Talmud leitet die genannten Richtlinien ebenfalls aus einem anderen Vers ab: „Zu lieben den Ewigen, Deinen Gott, Seiner Stimme zu gehorchen und sich ihm anzuschließen (5. Buch Mose 30,20). Ist es denn einem Menschen möglich, sich der Gottheit anzuschließen? Vielmehr,  wer seine Tochter an einen Talmid Chacham verheiratet, Talmidej Chachamim die Geschäfte besorgt und Talmidej Chachamim von seinem Vermögen genießen läßt, dem rechnet es die Schrift an, als würde er sich der Gottheit anschließen.“

 

Schauen wir uns an, wie Maimonides die talmudische Auslegung kodifiziert hat (Hilchot Deot 6,2): „Es ist ein Gebot der Tora, sich den Weisen und ihren Schülern anzuschließen, um von ihren Taten zu lernen, wie es heißt: Und an Ihm sollst du festhalten (5. Buch Mose 10,20). Ist es denn möglich, daß der Mensch sich wirklich Gott anschließen kann? Daher erklären die Weisen dieses Gebot wie folgt: Schließe dich den Weisen und ihren Schülern an. Der Mensch soll sich bemühen, die Tochter eines Talmud-Gelehrten zu heiraten, seine Tochter nur an einen solchen zu verheiraten, mit Talmud-Gelehrten zu speisen, mit ihnen Geschäfte zu machen, und überhaupt sich mit ihnen soviel wie möglich zu verbinden, denn so heißt es: An Ihm festzuhalten (5. Buch Mose 11,22).“

 

Maimonides begnügte sich nicht damit zu sagen, es sei ein Gebot der Tora, sich den Weisen anzuschließen; er fügte eine Deutung hinzu: „Um von ihren Taten zu lernen.“ Zu bemerken ist ferner eine Abweichung vom talmudischen Text: „Talmidej Chachamim von seinem Vermögen genießen lassen“ – diese Bestimmung bringt Maimonides nicht. Warum läßt der Autor die Geschenke an Talmidej Chachamim weg, die er übrigens in seinem früher verfaßten „Buch der Mitzwot“ (Gebot Nr. 6) noch erwähnt hat? Vielleicht hängt diese Auslassung mit der bekannten Ansicht von Maimonides zusammen, dass Talmidej Chachamim keine Geschenke annehmen sollten (siehe Hilchot Talmud Tora 3,10 und seinen Kommentar zu Awot 4,5).

 

Erwähnenswert ist, dass Rabbiner Samson Raphael Hirsch in seinem deutschsprachigen Mitzwot-Werk „Chorew“ (§ 496) in den Spuren von Maimonides geht. Rabbiner Hirsch arbeitet den Gedanken heraus, dass Talmidej Chachamim Vorbilder sind, an die man sich anschließen soll, um von ihrem Tun und Lassen zu lernen. Er läßt aber nicht nur die Geschenke an Talmidej Chachamim weg, sondern erwähnt auch die im Talmud empfohlene eheliche Verbindung mit keinem Wort. Daher erscheint mir, bei allem Respekt, seine Darstellung der Mitzwa einseitig und ergänzungsbedürftig.

 

Bleibt noch die wichtige Frage zu klären: Wer ist ein Talmid Chacham? Rabbiner Adin Steinsaltz führt in seinem Buch „Talmud für Jedermann“ aus, dass der Talmid Chacham das menschliche Ideal ist, zu dem jeder im jüdischen Volk strebe: „ Der Weise muß nicht nur scharfsinnig und gebildet sein, er muß in erster Linie im vollen Sinne des Wortes Mensch sein, eine geistige und moralisch integre Persönlichkeit mit entsprechenden Taten und Lebensführung. Ein Talmid Chacham muß in gewissem Sinne eine Art lebendiger Tora sein, so dass jede seiner Handlungen oder Äußerungen als Ausdruck der Tora selbst gewertet werden können“.

 

An welche Talmidej Chachamim sich jemand anschließt, hängt natürlich von den jeweiligen Gegebenheiten ab. Eine Anekdote, die über Rabbiner Joseph Schlomo Kahanemann erzählt wird, zeigt uns, daß nicht nur intellektuelle, sondern auch emotionale Faktoren bei der Entstehung der Bindung entscheidend sein können. Als junger Mann wollte Kahanemann in der Jeschiwa zu Novardok Tora studieren. Seine Fahrt dorthin unterbrach er in Radin, um eine Bracha (Segen) vom Chafetz Chajim zu erbitten. Er betrat das Haus dieses Gelehrten und mußte warten, bis er empfangen wurde. Da hörte er durch die Tür den Chafetz Chajim bitterlich weinen. Als er die Ehefrau fragte, was denn passiert sei, sagte sie ihm, ihrem Mann sei gesagt worden, er solle für eine Frau beten, die gerade eine schwere Geburt durchmache. Von der Tatsache, dass jemand  wegen der Nöte einer anderen Person so herzzerreißend weinen könne, war Kahanemann sehr bewegt. Er beschloß, seinen Plan zu ändern; statt nach Novardok weiterzureisen, zog er es vor, in der Nähe des Chafetz Chajim zu bleiben.

 

 

Der Autor ist Psychologe und hat an der Universität Köln gelehrt.

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