Jakow gehorchte

Auf Meinungsverschiedenheiten zwischen jüdischen Bibelexegeten stoßen wir regelmäßig...

4 Min.

Prof. Dr. Yizhak Ahren

gepostet auf 05.04.21

Auf Meinungsverschiedenheiten zwischen jüdischen Bibelexegeten stoßen wir regelmäßig. Wer zum Beispiel den klassischen Tora-Kommentar von Nachmanides (1194-1270) studiert, wird sehen, dass Nachmanides an zahlreichen Stellen die Ausführungen von Raschi (1040-1105) zitiert, danach Einwände erhebt und eine andere Erklärung der Schrift vorschlägt. Tora-Lerner sollten stets versuchen, beide Auffassungen zu verstehen; erst nach einer Erörterung der Stärken und Schwächen der verschiedenen Ansichten kann der Forscher der Frage nachgehen, welche mehr einleuchtet. Dass  in unseren Tagen jemand eine neue Sichtweise ins Gespräch bringen kann, soll hier an einem viel diskutierten Bibelabschnitt gezeigt werden.

Über den Segen von Yizhak (Bereschit Kap. 27) ist schon sehr viel geschrieben worden; das ist keineswegs überraschend, denn die beschriebenen Vorgänge werfen eine Reihe von Fragen auf. Yizhak wollte seinen älteren Sohn Esaw segnen; aber Esaws Zwillingsbruder, Jakow, hat den blinden Vater getäuscht und erhielt den Segen. War es nicht moralisch verwerflich von Jakow, durch eine Maskerade das Vorhaben seines Vaters zu vereiteln und Bruder Esaw um den ihm vom Vater versprochenen Segen zu bringen? Jakow wurde von der Mutter, Riwka, zur Täuschung veranlasst. Auf den ersten Blick scheint ihr Verhalten äußerst problematisch zu sein: Warum hat sie ihren Mann hintergangen? Es ist bemerkenswert, dass Jakow keinerlei moralische Bedenken gegen den Plan der Mutter äußert, sondern nur Angst vor dessen Misslingen hat: "Da sagte Jakow zu Riwka, seiner Mutter: Siehe, Esaw, mein Bruder, ist ein behaarter Mann und ich bin ein glatter Mann. Vielleicht betastet mich mein Vater und ich wäre in seinen Augen wie ein Betrüger; so brächte ich auf mich Fluch und nicht Segen" (Verse 11 und 12).

Die meisten Kommentatoren gehen in den bewährten Spuren von Nachmanides. Dieser erklärt, dass es Yizhaks Absicht war, Esaw den Segen Abrahams zu geben, damit dieser das versprochene Land erhalten und Gottes Bündnis-Partner werden sollte.  Riwka aber war sich sicher, dass Jakow  und nicht sein Bruder den Segen erhalten sollte. Woher wusste sie dies? Aus einer Prophezeiung, die ihr zuteil wurde, als sie schwanger war: "Der Ewige sprach zu ihr: Zwei Völker sind in deinem Leibe und zwei Stämme aus deinem Schosse werden sich scheiden; und ein Stamm wird mächtiger als der andere, und der ältere wird dienen dem jüngeren" (Bereschit Kap.25,23) Daraus geht eindeutig hervor, dass der jüngere und nicht der ältere die Linie Abrahams fortsetzen wird. Zudem hatte die Tatsache, dass Esaw  zwei unerwünschte chittitische Frauen geheiratet hatte ( siehe Bereschit Kap. 26,Verse 34 und 35) ihr gezeigt, wie unwürdig er war den abrahamitischen Segen zu erhalten. Riwka sah es als ihre Pflicht an, für die Realisierung der Prophezeiung zu sorgen. Als Prophetin konnte sie die oben angeführte Befürchtung von Jakow leicht beiseite schieben: "Da sprach seine Mutter zu ihm: Auf mich dein Fluch, mein Sohn!" (Vers 13). Targum Onkelos erklärt ihren Ausspruch: Durch Prophezeiung weiß ich, dass kein Fluch dich treffen wird.

Nachmanides merkt an, dass Riwka offensichtlich ihrem Mann von der erhaltenen Prophezeiung nie erzählt hatte. Denn sonst hätte Yizhak nicht gegen Gottes Wort gehandelt; den falschen Sohn zu segnen – das macht keinen Sinn. Warum aber hat Riwka Yizhak nicht vor der Maskerade über seinen Irrtum aufgeklärt? Nachmanides meint: Riwka befürchtete, dass Yizhak aufgrund seiner bekannten Liebe zu Esaw ( siehe Bereschit Kap. 25,28) in diesem Falle keines der Kinder gesegnet hätte und die Frage, durch wen die Tradition Abrahams fortgesetzt werden sollte, wäre offen geblieben. Paradoxerweise wollte Riwka durch Nichterwähnung der erhaltenen Prophezeiung Jakow den Segen verschaffen.

Was aber, wenn Riwka schon vor oder nach der Geburt der Zwillinge ihrem Mann von der Prophezeiung berichtet hat? Dann hätte Yizhak gewusst, dass Jakow als geistiger Erbe anzuerkennen war. Wenn jemand von dieser Annahme ausgeht, dann muss er die Geschichte von Yizhaks Segen anders als Nachmanides interpretieren. Rabbiner S.R.Hirsch (1808-1888) schreibt in seinem Tora-Kommentar, dass Yizhak fest daran geglaubt habe, die abrahamitische Bestimmung sollte von Esaw und Jakob in brüderlicher Vereinigung und gegenseitiger Ergänzung von ihnen fortgeführt werden. Er wollte Esaw einen Segen materiellen Inhalts und Jakob einen Segen geistigen Inhalts geben. Riwka war es in Gesprächen nicht gelungen, ihren Mann davon zu überzeugen, Esaw sei für die Erfüllung der abrahamitischen Aufgabe ungeeignet. Sie inszenierte deshalb eine Komödie, um Yizhak zu demonstrieren, wie leicht er einer Täuschung erliege. Ihr Plan ging auf: Yizhak erkannte, dass er unbewusst den würdigen Sohn gesegnet hatte.

Eine ganz andere, ohne Zweifel originelle Sichtweise hat der amerikanische Rabbiner David J. Zucker 2011 in der Zeitschrift "Jewish Bible Quarterly" veröffentlicht, die man auch im Internet lesen kann. Nach Zucker hat  Jakow seinen  Vater gar nicht getäuscht; er glaubte nur, dies zu tun. In Wirklichkeit haben die Eltern das ganze Schauspiel inszeniert. Was waren ihre Motive? Nach Zuckers Theorie fiel es Yizhak und Riwka schwer, Esaw zu sagen, dass sein Bruder würdiger als er sei, den Segen Abrahams zu empfangen. Sie beschlossen, den vorher abgesprochenen Akt der Segnung von Jakow als Folge einer Täuschung zu tarnen. Deshalb schickte Yizhak Esaw zur Jagd weg, und Riwka half Jakow bei der Maskerade. Der blinde Yizhak spielte seine Rolle sehr überzeugend.

Ein sonst schwieriger Vers wird nach Zuckers Lesart sofort verständlich. Als Esaw ankommt und die Täuschung offenbar wird, spricht der Vater: "Wer war denn nun der, welcher Wild gejagt und mir gebracht, und ich aß von allem, bevor du kamst, und segnete ihn; er wird auch ein Gesegneter sein!" (Vers 33). Der Schluss der Aussage überrascht uns; wir hätten eher erwartet: "er sei ein Verfluchter!" (was Jakow zuvor befürchtet hatte). Hat aber der Vater bei der Maskerade Regie geführt, dann begreifen wir, dass Yizhak seinen Segen bestätigt.

Das Schauspiel sollte nach Zucker nicht  nur Jakow als den Erwählten bestimmen, sondern auch zu seiner persönlichen Weiterentwicklung beitragen. Über Jakow sagt die Schrift: "Jakow war ein schlichter Mann, der in den Zelten weilte" (Bereschit Kap. 25,27). Durch die inszenierte Täuschung wird dem schlichten Mann beigebracht, dass er unter Druck durchaus "politisch korrekt " (wie manche nicht ganz ehrliche Politiker) handeln kann.  Auch meint Zucker, dass die Eltern sich Sorgen über Jakow machten, der im Alter von 40 Jahren noch unverheiratet war und gar keine Anstalten machte, das elterliche Haus ("Hotel Mama" in heutiger Sprache ) zu verlassen. Bestandteil des am Ende erfolgreichen elterlichen Plans war, solche Bedingungen zu schaffen, die Jakow zwangen, umgehend abzureisen. Bevor er auf Befehl des Vaters in die Ferne fährt, um sich eine Frau von den Töchtern Labans zu nehmen, erhält er einen weiteren Segen: "Gott der Allmächtige wird dich segnen, und dich fruchtbar machen und dich mehren, dass du werdest zu einer Versammlung von Völkern. Und wird die geben den Segen Abrahams, dir und deinem Samen mit dir, dass du besitzest das Land deines Aufenthaltes, das Gott gegeben dem Abraham" (Kap.28, Verse 3 und 4).

Wir haben mehrere Lesarten der Täuschungsgeschichte referiert. Sie unterscheiden sich in der Antwort auf die Frage: Wer hat wen getäuscht? Zuckers verblüffende Interpretation erinnert an eine Verschwörungstheorie. Deshalb werden viele konservative Tora-Leser die  Deutungen von Nachmanides  und von Hirsch bevorzugen. Aber auch Zuckers Deutung verdient Beachtung. Ein Vergleich verschiedener Tora-Auslegungen lohnt sich immer.
 

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