Vom Sinn der Kriah

Das symbolische Einreissen der Kleidung im Trauerfall bezeichnet man als Kriah. Die Kriah ist ein uralter Trauerritus.

2 Min.

Prof. Dr. Yizhak Ahren

gepostet auf 04.04.21

Das symbolische Einreissen der Kleidung im Trauerfall bezeichnet man als Kriah. Die Kriah ist ein uralter Trauerritus, den schon Stammvater Jakob praktizierte, als er (irrtümlich) meinte, ein wildes Tier habe seinen Lieblingssohn Josef gefressen: „Und Jakob zerriss seine Kleider und legte einen Sack um seine Lenden und trauerte um seinen Sohn lange Zeit“ (1. Buch Mose 37,34).

 

Ausführungsbestimmungen zur Kriah finden wir im Talmud an verschiedenen Stellen. Im Traktat Moed katan (26a) lesen wir: „In folgenden Fällen darf der Riss nicht zusammengenäht werden: wenn man das Gewand einreisst über seinen Vater, seine Mutter, seinen Lehrer, der ihm Tora beibrachte.“ Abgeleitet wird die Gleichsetzung von Eltern mit Tora-Lehrern aus dem biblischen Bericht, dass der Prophet Elischa seine Kleidung zerriss, als sein Lehrmeister Elijahu gen Himmel aufstieg (2 Könige 2,12).

 

Im Traktat Berachot (42b und 43a) wird über den babylonischen Amoräer Rabbi Ada Bar Ahavah, der im 3. Jahrhundert lebte, berichtet, er habe sogar ein zweites Mal eine Kriah gemacht, als Raw, der Begründer der Talmud-Akademie von Sura, betrauert wurde: „Als die Seele Raws zur Ruhe eingekehrt war, gaben ihm seine Schüler das Geleit, und als sie von der Beerdigung zurückkehrten, sprachen sie: Wir wollen gehen und am Strom Denak speisen.“ Nach dem Essen diskutierten sie eine praktische halachische Frage, die uns hier nicht beschäftigen soll. Wichtig ist nur, dass Raws Schüler zunächst keine Antwort auf die aufgeworfene Frage wussten. „Da stand Rabbi Ada Bar Ahava auf, drehte seinen Riss nach hinten und machte einen zweiten Riss, indem er sprach: Die Seele Raws ist zur Ruhe eingekehrt, und wir haben die Speise-Segenssprüche nicht gelernt!“

 

Rabbi Ada Bar Ahavahs zweite Kriah  erscheint auf den ersten Blick seltsam. Wenn Kriah ein Zeichen der Trauer ist – der Riss ins Gewand drückt aus, dass in die äusseren Beziehungen des Menschen ein Riss gekommen ist -, welche Bedeutung kann dann die erneute Kriah haben? Die Umstände dieser Begebenheit helfen uns, den Sinn der Kriah besser zu verstehen. Erst auf dem Rückweg von Raws Beisetzung ging Rabbi Ada Bar Ahava die Tiefe des erlittenen Verlustes auf: Wieviel Tora hätte ich noch von Raw lernen können! Um seine schmerzliche Erregung zu lindern, hat er an einer anderen Stelle seines Gewandes einen zweiten Riss gemacht.

 

Die Tatsache, dass die Kriah zur Beruhigung des Trauernden beiträgt, erklärt uns, warum diese vorgeschriebene Handlung nicht als eine verbotene Zerstörung gilt (siehe Rabbiner Baruch HaLevi Epstein, „Tora Temima“ zu 3. Buch Mose 10 Note 7). Das Einreissen der Kleidung bewirkt Positives und ist daher nicht als sinnloses Kaputtmachen zu werten. Allerdings muss der Trauernde auch bei der Kriah Mass halten; der Talmud (Baba Kamma 91b) warnt: „Rabbi Elasar sagte: Ich hörte, wer über einen Toten die Gewänder mehr als nötig zerreißt, erhalte Geiselhiebe wegen des Verbotes des Zerstörens.“

 

Die Kriah, die im Regelfall vor der Beerdigung gemacht wird, trägt zur Linderung des akuten Schmerzes der Hinterbliebenen bei. Ausserdem sorgt sie dafür, dass eine bestimmte Form der pathologischen Trauer sich nicht entwickeln kann. In der Schockphase der Trauer ist die Verleugnung eine typische Reaktion der Angehörigen. Wer jedoch einen Riss im Gewand trägt, hat die Gefahr der Verleugnung bereits sehr eingeschränkt. Man kann behaupten, dass die Kriah eine symbolische Handlung ist, die einen schmerzhaften Moment anzeigt und zugleich hilft, mit der nun einmal gegebenen Lage besser umgehen zu können.

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