Teamgeist auf dem Everest

Fast täglich stehen wir vor solchen Entscheidungen - zu Hause, im Beruf und in der Gemeinschaft mit anderen.

3 Min.

Andrea Jockisch

gepostet auf 18.03.21

Wer ist dir wichtig – die anderen oder du selbst?

 

Mit dieser entscheidenden Frage wurde der Expeditionsleiter Dan Mazur am 25. Mai 2006 konfrontiert …

 

Dan Mazur hielt sich für einen glücklichen Menschen. Die meisten hielten ihn eher für verrückt. Er war der Spitze des Mount Everest nahe, nur noch dreihundert Meter höher, weniger als zwei Stunden Klettern, bis er sich einen lebenslangen Traum erfüllt haben würde.

 

Jedes Jahr machen die fittesten Abenteurer der Welt diesen 8.848 Meter hohen Gipfel zum Ziel ihrer Träume. Und jedes Jahr sterben einige bei dem Versuch. Die Spitze des Everest ist nicht gerade für ihre Gastfreundschaft bekannt. Bergsteiger nennen den Bereich, der über 7.925 Meter liegt, „die Todeszone“.

 

Temperaturen weit unter null. Plötzliche Schneestürme, die einem die Sicht blockieren. Kaum Sauerstoff zum Atmen. Kein Wunder, dass die Gipfelregion ein Friedhof ist.

 

Erst zehn Tage vor Mazurs Versuch war ein britischer Bergsteiger ums Leben gekommen. Vierzig Bergsteiger, die ihm hätten helfen können, entschieden sich dagegen. Sie gingen auf ihrem Weg zur Spitze einfach an ihm vorbei.

 

Der Everest kann grausam sein. Und dennoch – Mazur war überglücklich. Zusammen mit zwei Kameraden war er bereits in Sichtweite des Gipfels. Sechs Wochen Aufstieg. Und nun, am 25. Mai 2006 um 7.30 Uhr, herrschte vollkommene Ruhe, die Morgensonne schien hell und genug Kraft für den Endspurt war vorhanden. Da fiel ihm ein Farbfleck ins Auge: ein Stück gelber Stoff an der Spitze des Bergkamms. Zunächst hielt er es für ein Zelt. Bald sah er jedoch, dass es ein Mensch war – ein Mann, der gefährlich nah am Rand eines rasiermesserdünnen Felsvorsprungs hockte. Er trug keine Handschuhe mehr, der Reißverschluss seiner Jacke war offen. Hände und Brust waren der eisigen Kälte ausgesetzt. Sauerstoffmangel kann Hirnschwellungen erzeugen und Halluzinationen hervorrufen. Mazur wusste, dass dieser Mann keine Ahnung hatte, wo er war, also kletterte er in seine Richtung und rief ihm zu.

 

„Kannst du mir sagen, wie du heißt?“

 

„Ja“, antwortete der Mann und grinste, „kann ich. Ich heiße Lincoln Hall.“

 

Mazur war geschockt. Er kannte den Namen. Zwölf Stunden zuvor hatte er die Nachricht im Radio gehört, dass Lincoln Hall auf dem Berg verunglückt sei. Sein Team habe ihn tot am Abhang zurückgelassen.

 

Und obwohl er die Nacht bei minus 20 Grad in einer extrem sauerstoffarmen Luft verbracht hatte, war Lincoln Hall noch immer am Leben. Mazur stand einem Wunder aus Fleisch und Blut gegenüber.

 

Aber er musste auch eine wichtige Entscheidung treffen. Ein Rettungsversuch barg erhebliche Risiken. Der Abstieg war sowieso schon tückisch, umso mehr mit der zusätzlichen Last eines halb toten Mannes auf den Schultern. Außerdem: Wie lange würde Hall noch durchhalten? Das konnte niemand sagen. Vielleicht würden die drei Bergsteiger den Everest-Gipfel für nichts und wieder nichts aufgeben. Sie mussten sich entscheiden: ihren Traum aufgeben oder Lincoln Hall.

 

Sie entschieden sich auf die Erfüllung ihres Traumes zu verzichten. Die drei kehrten dem Gipfel den Rücken zu und begannen den mühsamen Abstieg.

 

Ihre Entscheidung, Halls Leben zu retten, wirft eine große Frage auf: Würden wir dasselbe tun? Unseren Ehrgeiz aufgeben, um einen anderen zu retten? Unsere Träume beiseiteschieben, um einem anderen Bergsteiger zu Hilfe zu kommen? Unsere Träume platzen lassen, damit ein anderer vielleicht überlebt?

 

Fast täglich stehen wir vor solchen Entscheidungen. Nicht auf dem Mount Everest zusammen mit Abenteurern, aber zu Hause, im Beruf und in der Gemeinschaft mit anderen. Wir stehen regelmäßig leicht zu übersehenden, doch wichtigen Entscheidungen gegenüber, bei denen sich immer wieder die eine Frage stellt: Wer ist dir wichtig – die anderen oder du selbst?

 

* * *

 

Liebender Gott, der Du voller Mitgefühl bist,

lehre mich, so zu sein wie Du.

Lehre mich freundlich zu sein und gütig und liebevoll,

gerade so wie Du zu allen Deinen Geschöpfen freundlich und gütig und liebevoll bist.

Bitte hilf mir, gegenüber allem in der Schöpfung wahres Einfühlungsvermögen und echtes Mitgefühl zu entwickeln.

 

(Likutei Moharan, Band 1, Lektion 105)

 

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