Kindergarten-Emuna
Manche Leute wachsen nie über kindlichen Glauben hinaus. Andere tauschen ihn gegen zynische Besserwisserei. Was ist der richtige Weg?
Neulich habe ich einen Artikel über Kindergarten-Emuna gelesen. Der Autor klagte über den unreifen Zustand des Glaubens vieler religiöser Menschen. Kindergarten-Emuna ist ein Glauben, der sich seit dem Kindergarten nicht verändert hat. Wir halten an dem simplen Bild fest, dass wir als Kinder gelernt haben: G-tt hat die Welt erschaffen und jetzt sitzt er auf der Wolke und kümmert sich darum, dass Natur und Kosmos weiterhin funktionieren.
Die nächste Stufe, die nicht viele erreichen, so klagt zumindest bewusster Artikel, ist, die Allmächtigkeit G-ttes zuende zu denken: Er beherrscht nicht nur den Kosmos, sondern auch mein persönliches Leben, jeden Herzschlag.
Ich habe auch einen Ausschnitt aus einem Buch gelesen. Das Buch heißt "Alles, was ich im Leben brauche, habe ich im Kindergarten gelernt". Der Ausschnitt legte dar, dass wir die wesentlichen Werte des Lebens im Kindergarten lernen: Teilen, Fairness, räum hinter dir auf, mach einen Mittagsschlaf, Hände waschen vor dem Essen, nimm nichts, was dir nicht gehört… Und damit hat das Buch ja auch irgendwie Recht. Das sind schließlich grundsätzliche Umgangswerte, wie sie auch die Torah lehrt.
Beide Autoren greifen hier also auf den Kindergarten zurück, um eine Aussage zu machen. Aber der eine beklagt fehlendes Wachstum und Entwicklung, der andere beklagt übertriebene Kultiviertheit und Intelektuelles Gehabe. Der eine sagt, wir müssen den Kindergarten verlassen, der andere, wir müssen zurück zum Kindergarten.
Die meisten Menschen sind sich noch nicht einmal bewusst, dass sie Kindergarten-Emuna haben. Es ist so selbstverständlich für unsere Seelen, G-ttes Existenz zu akzeptieren. Ein g-ttlicher Funke liegt tief in unserer Seele. Das ist der Anfang allen spirituellen Bewusstseins.
Als Kinder haben wir kein Problem damit, dass G-tt allmächtig und wunderbar ist. Ohnehin ist alles um uns herum ein Wunder. Diese schlichte Akzeptanz G-ttes ist die Basis, das ABC, allen Glaubens. Aber sie ist nicht genug, um uns durch das Leben zu tragen. Das ABC macht uns noch nicht zu Dichtern. Wir müssen an unserer Emuna arbeiten, investieren. Zeit und Erfahrung tun das ihre, daneben braucht man Durchhaltevermögen.
In der Schule werden die Herausforderungen immer größer, je weiter wir gehen. Wir müssen hart arbeiten, aber wir fühlen den Fortschritt kaum. Wir fühlen nur die täglichen Anforderungen und Hausaufgaben. Nur am Ende des Jahres schauen wir zurück und sehen, was wir alles gelernt haben. Und dann fühlen wir manchmal auch, dass wir nächstes Jahr nicht nur weiter machen müssen, sondern wollen, weil unsere Zukunft davon abhängt.
Genauso ist es mit dem Glauben. Wenn wir anfangen, zu glauben, ist alles wundervoll! Wie im Kindergarten ist alles neu, jeder Tag ein Abenteuer. Wir lernen unglaublich schnell und und viel. Auch mit der Emuna ist es am Anfang so. Und wir sind ungeduldig, wir wollen endlich groß sein und Feuerwehrmann werden, Arzt, ein Heiliger!
Dann treffen wir auf die Realität. Jedes Jahr wird der Alltag härter. Wir sehen den Wald for lauter Bäumen, Aufgaben und Tests nicht. Hoffnungen und Enttäuschungen, Versuchungen und Bedrängnis.
Wir sind so beschäftigt mit unserem alltäglichen Leben, dass wir den Glauben vergessen und übersehen, wie HaShem die ganze Zeit in unserem Leben aktiv ist. Wir übersehen den Wald des großen Plans vor lauter Bäumen von Problemen, ungehorsamen Kindern, und finanziellen Engpässen.
Sogar wenn du an deiner Emuna arbeitest – jeden Tag das persönliche Gebet, Hitbodedut eine Stunde lang, suchst, fühlst du den Fortschritt kaum. Aber du tust spirituelle Arbeit! Du benutzt deinen Glauben im Alltag, auch wenn du es kaum merkst!
Blick zurück: Als du das erste Mal erfasst hast, dass HaShem dein persönliches Leben lenkt, da war das unglaublich. Jetzt ist es selbstverständlich. Das ist weniger aufregend, aber es ist spiritueller Fortschritt. Was vorher neu war, ist jetzt in die Basis unseres Lebens aufgenommen. Mach dir das einen Moment bewusst.
Du bist früher bei jedem Stau ausgerastet. Heute kannst du entspannt im Auto sitzen und denken, dass HaShem schon alles in der Hand hat. Das ist spiritueller Fortschritt! Okay, du hast nicht die gleiche Seelenruhe gegenüber deinen Kindern, deinem Partner, noch nicht einmal gegenüber den Arbeitskollegen. Da liegt eben noch ein bisschen Arbeit vor dir, aber das macht den Fortschritt bis hierhin nicht kleiner. Manche von uns sind eben noch in der Grundschule, manche schon ein bisschen weiter.
Fortschritt misst man, indem man zurück blickt. Darum zählen wir den Omer, die sieben Wochen zwischen Pesach und Shavuot, die Vorbereitung auf den Empfang der Torah, als vergangene Tage, nicht als noch vor uns liegende Tage. Rabbi Nachman empfiehlt, dankbar und stolz auf Zeiten spiritueller Stärke zurück zu blicken. Das gibt Kaft in den unasuweichlichen schlechten Zeiten.
Daneben lehrt Rabbi Nachman, dass vor jedem spirituellen Wachstum ein Fall nötig ist. In der Schule stehen wir am Ende des Jahres stolz mit dem Erreichten da, nur um nach den Ferien wieder unten anzufangen. Aber wir fangen auf einem höheren Level unten an!
Oft denken wir, wir hätten eine spirituelle Übung gemeistert, eine Charaktereigenschaft korrigiert. Und dann kommt plötzlich wieder eine Versuchung genau zu dem Thema. Bevor wir mit dem neuen Level beginnen, wird das Gelernte geprüft. Rabbi Nachmann erklärt es so, dass wir auf jedem spirituellen Level wieder den gleichen negativen Kräften begegnen. Darum kämpfen wir ständig den gleichen Kampf und haben Deja-Vus. Aber wenn wir genau hinsehen, werden wir merken, dass wir dieses Mal ein bisschen anders mit der Herausforderung umgegangen sind. Wir haben vielleicht wieder nicht die Hundert Prozent erreicht, aber wir haben einen neuen Aspekt unseres Glaubens benutzt und trainiert.
Wir verbessern unsere Emuna graduell, wie unsere literarischen oder mathematischen Fähigkeiten.
Spiritueller Fortschritt braucht ständige Arbeit. Das ist schwer. Aber nur, wer über Kindergarten-Emuna hinaus wächst, erhält die nötigen Werkzeuge für ein aufrichtiges und gesundes spirituelles Leben.
Motivation für die spirituelle Arbeit bekommen wir aus der Rückschau, das wir den Kindergarten schon hinter uns gelassen und uns entwickelt haben. Gleichzeitig dürfen wir aber auch nicht vergessen, wie wichtig kindlicher, simpler Glaube als Basis für unseren erwachsenen Glauben ist.
Wenn ich also auf die beiden Schriftstücke zurück blicke, die ich am Anfang des Artikels erwähnte, merke ich: beide haben Recht, wenn man sie kombiniert. Wir müssen ständig fortschreiten und wachsen, HaShem in jedem Aspekt unseres Alltags erkennen.
Daneben müssen wir in zwei Situationen auf unsere Kindergarten-Emuna zurück blicken und uns von ihr inspirieren lassen. Erstens, wenn wir müde werden, müssen wir uns erinnern wie einfach und schnell unser Glauben am Anfang gewachsen ist, und wie sehr er auch seitdem gewachsen ist. Zweitens, wenn wir zu philosophisch und besserwisserisch werden und alles hinterfragen, müssen wir uns auf einen schlichten Glauben ohne Fragen stützen.
Rabbi Nachman nennt die Kombination dieser beiden Ansätze: rennen und zurück kommen. Wir gehen ständig vor und zurück. Der Schlüssel für einen gesunden Glauben ist, zu wissen, wann ich nach vorne presche und wann ich mir gestatte, auf einen simplen Glauben zurück zu fallen. Diese Balance sichert uns einen Glauben ohne Verzweiflung und ohne Überheblichkeit.
Also pack deine Brotzeit in den Rucksack, der Kindergarten wartet!
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