Politik und Judentum (3)

Politik - die theoretische Seite gegenüber der praktischen. Und wie wichtig es in der Politik ist: aufrichtig zu sein!

5 Min.

Rabbiner Schlomo Aviner

gepostet auf 05.04.21

Im ersten Teil der Reihe sprachen wir über: 1. Politische Enthaltsamkeit – 2. Politik und Schlechtigkeit – 3. Herrschaft der Geradheit

Der zweite Teil der Reihe handelte über: 4. „Und ich werde dich zu einem großen Volke machen“, 5. Gesellschaft mit hoher Verantwortlichkeit, 6. Der Staat Israel
 
7. Politik – die theoretische Seite

Bei der Untersuchung der Beziehung des religiösen Menschen zur Politik müssen wir zwischen zwei Bereichen, beide „Politik“ genannt, unterscheiden.

1.) Die „theoretische“ Politik, die reine Wissenschaft. Darunter verstehen wir die Lehre von der Staatsführung, das Ideal. Hier müssen notwendigerweise Menschen des Geistes zum Einsatz kommen, denn nur sie verfügen über die Mittel, Fragen der Allgemeinheit und des Wesens der gesamten Nation und kommender Generationen zu klären. Dieser „Arbeitskreis des Geistes“ kann Vertreter von Kultur, passender Berufe wie z. B. Richter, Wirtschaftsfachleute usw. enthalten, den Vorsitz sollten jedoch Vertreter des Spirituellen, Tora-Gelehrte, einnehmen. Die sich herauskristallisierende politische Philosophie muss einer Prüfung nach folgenden drei Kriterien standhalten: 

1. Erkenntnis der Fakten im Lichte ihrer Verbindung zu den großen, allgemeinen Zielen, die alle Generationen umfassen 

2. Erkenntnis aller aktiven Institutionen und Machtmechanismen 

3. Wertbeurteilung aller Einrichtungen, Organisationen, Parteien usw. und Ausgabe neuer Leitlinien
Wer sich in diesem, allgemeinen Sinne mit Politik beschäftigt, muss die historischen Entwicklungsprozesse der Nation aufdecken, ihr als Pädagoge dienen, sie anleiten und ihr den Weg in die Zukunft weisen. 

Er muss eine Nation führen, die nach einer Zielrichtung verlangt, die auch dem Druck von Krisenzeiten standhält.
 
8. Politik – die praktische Seite
 
Der zweite Bereich der Politik besteht aus der praktischen, ausführenden Seite. Diese beschäftigt sich mit Führung und Ordnung der Staatsangelegenheiten im praktischen Sinne unter Zugrundelegung der von den Politikphilosophen vorgegebenen Richtlinien.

Aktive politische Betätigung wird von der Tora für wichtig und ehrbar angesehen, wie es heißt: „…und alle, die öffentliche Aufgaben treu erfüllen, der Heilige, gesegnet sei er, zahle ihren Lohn,…“ („Mischeberach Awotenu“ nach der Tora-Lesung am Schabbat [Sabbat]); sie verpflichtet zu Gewissenhaftigkeit bei der Ausführung. Doch da liegt das Problem – verbirgt sich hier doch ein Minenfeld von persönlichen Verbindungen, Beziehungen und Koalitionen; je ausgeklügelter, desto unmoralischer. Deshalb haben viele geradlinige und begabte Menschen, Idealisten und Visionäre, bei dieser Arbeit keinen Erfolg, da sie wie eine Schlacht durchfochten werden muss. Wer sich mit aktiver Politik beschäftigt, muss Erfahrung in politischer Kriegführung mitbringen. Er muss ein bisschen Machiavellist sein, jegliche Moral verachtender Zyniker und grausamer Opportunist von gewaltiger Willensstärke, der vor keinem Mittel zurückschreckt, um sein Ziel zu erreichen.

Vor etwa fünfhundert Jahren lebte Niccolo Machiavelli, der als „Vater der Politikwissenschaft“ gilt und, allerdings zu Unrecht, mit dem Titelhelden seines berühmtesten Buches „Der Prinz“ identifiziert wird. Machiavelli betrachtete die Politik als echte Wissenschaft und nicht als Beruf, dem man sich nebenher wie einem Hobby widmet. Als Gesandter kam er viel herum und sah so einiges. Er schilderte, wie die Politik überall auf Lüge, Macht, Geldgier und Betrug fußte; Machiavelli war zwar Idealist, aber auch Realist. Die talmudischen Weisen erkannten und beschrieben diesen Zustand sehr trefflich schon lange vor ihm in ihrem Spruch: „Seiet vorsichtig mit Machthabern; sie lassen den Menschen nur näher zu sich in ihrem eigenen Interesse, scheinen wie Freunde zur Zeit ihres Nutzens und stehen dem Menschen nicht bei zur Zeit seiner Bedrängnisse“ (Sprüche der Väter 2,3). Die Wirklichkeit zeigt, dass gerade die Politiker und Parteien, die sich krummer Mittel bedienen, erfolgreicher sind als Idealisten und Aufrichtige. Es drängt sich der Verdacht auf, dass man ohne diese Mittel nicht auskommt, um in der Politik Erfolg zu haben. Andererseits verbietet die Tora Lüge und Irreführung. In dieses Tätigkeitsfeld kann man sich also nur mit reicher Erfahrung begeben, um sich vor den Betrügereien der Anderen in Acht nehmen zu können, ohne jedoch selbst zu solchen Mitteln zu greifen.

In unserem Vorvater Jakov finden wir dafür das Vorbild. Über ihn heißt es: „Jakov, ein aufrichtiger Mann“ (Genesis 25,27), und Raschi (Rabbi Schlomo ben Jizchak, größter Bibel- und Talmudkommentator, lebte vor ca. 900 Jahren in Deutschland und Frankreich) erklärte dazu: „im Betrügen nicht erfahren“. Die Tora informiert uns darüber im voraus, um nicht eine ganze Reihe von Vorfällen miss zu verstehen, weil man nämlich glauben könnte, dass Jakov sich unlauterer Mittel zum Zweck bediene. Oberflächlich betrachtet könnte man zu der irrigen Erkenntnis gelangen, der Zweck heilige alle Mittel. In Wirklichkeit braucht man die gründliche Kenntnis der Betrügereien der Anderen, um diese an deren Anwendung uns gegenüber zu hindern. Als Rachel Jakov warnte, dass Lawan ein Betrüger sei, richtete Jakov die Dinge so ein, dass er das ihm Zustehende erhalten und Lawan ihn nicht betrügen konnte. Nachdem er für Rachel die vereinbarten sieben Jahre abgearbeitet hatte, verabredete er mit ihr Erkennungszeichen. Er sprach zu ihr: Ich bin sein Bruder in der List. Sie fragte ihn darauf: Dürfen sich die Gerechten einer List bedienen?! Er antwortete: Jawohl, mit den Lautern verfährst du lauter, mit den Verkehrten verdreht (Megilla 13b, Schemu'el II 22,27).

Ebenso ging es mit Eßaw [Esau]: Jakov nutzte einen Moment der Schwäche bei Eßaw und erlangte so das Erstgeborenenrecht und den väterlichen Segen, die Eßaw geringschätzte. Hier bediente sich Jakov kluger Kaufmannsmethoden. Der Händler versteht sich auf den günstigen Einkauf der Ware und deren Verkauf mit Aufschlag. Eßaw erkannte an einem bestimmten Punkt, was ihm widerfuhr, und sagte dazu: „Darum also nennt er sich Jakov, weil er mich schon zweimal überlistet (j'akveni) hat?!“ (Genesis 27,36).

Aus der Wurzel des hebräischen Wortes „Ekew“ (Buchstaben 'ajin- 'kuf-wet = Ferse; aus dieser Wurzel leiten sich auch "Jakov" und "j'akveni" ab) entnehmen wir, dass man den Dingen auf der Spur bleiben muss und auch, die „Achilles-Ferse“ des Gegners ausfindig zu machen. In der griechischen Mythologie wird von einer Mutter erzählt, die ihr Kind Achilles in einen speziellen Zaubersaft tunkte, der vor Verwundung durch Pfeile schützen sollte. Dabei hielt sie ihn an der Ferse, so dass er dort verwundbar blieb, und so fiel er denn auch in der Schlacht. 
 

Bis jetzt wurde erläutert, wie sich der Politiker durch Einsicht und Erfahrung vor Überlistung durch andere schützen muss, wobei ihm die Tora verbietet, sich der Lüge zu bedienen – es gibt aber Ausnahmefälle, in denen es doch erlaubt ist, zum Beispiel bei Lebensgefahr. In der Gemara heißt es: „Wenn ein Israelit auf dem Wege mit einem Nichtjuden zusammentrifft und er ihn fragt, wohin er gehe, so gebe er ihm ein weiteres Reiseziel an“ (Awoda Sara 25b), das heißt, wenn er noch 4 km zu gehen hat, gebe er 8 km an. Und wozu dieser Umstand? Weil anzunehmen ist, dass der Nichtjude ihn umbringen und berauben will. Aus Gründen der Bequemlichkeit wird er jedoch bevorzugen, sein Vorhaben gegen Ende des Weges auszuführen, da er dann die Beute nicht so weit zu schleppen braucht. Daher ist in einem solchen Fall dem Juden erlaubt, von der Wahrheit abzuweichen, damit der Nichtjude ihm keinen Schaden zufügen kann.

9. „Sei aufrichtig“

„Der „Chafez Chaim“ (Rabbi Israel Meir Hakohen, einer der größten Gelehrten der neueren Zeit, besonders bekannt als Verfasser der Werke „Chafez Chaim“ über das Vermeiden übler  Nachrede nach den Geboten der Tora, und „Mischna Brura“, einer  Zusammenfassung der wichtigsten Erläuterungen zu einem Teil der  heute zur Anwendung kommenden Gebote) – war als aufrichtiger Gerechter bekannt und dabei doch auch scharfsinnig und in allen weltlichen Dingen bewandert. Er betonte stets, seine Aufrichtigkeit zu bewahren: Sei aufrichtig mit dem Ewigen, Deinem Gott, und kläre alle Komplikationen des Lebens aus tiefer Weisheit des Heiligen und des Glaubens, im Streben nach dem Erhabenen. 'Eine Leiter war gestellt auf die Erde und die Spitze reichte an den Himmel'“ (Gespräche Harav Zwi Jehuda, 1.Serie, Wajischlach 11; Genesis 28,12).

Manchmal scheint uns die Welt nur aus List, Zwang und Geschäftemacherei zu bestehen und man einfach unmöglich rechtschaffen bleiben kann. Doch selbst im Grauen des Krieges, in dem man töten muss, um nicht selbst getötet zu werden, lehrt uns unsere Tora, auch im Kampfgetümmel moralisch und gradlinig zu bleiben – erst recht also in der Politik.

Wir entnehmen aus alledem, dass der Mensch des Geistes weniger in die praktische, ausführende Politik gehört, sondern vielmehr im allgemeinen, politisch-philosophischen Bereich benötigt wird. Die spirituelle Führungspersönlichkeit bestimmt die Leitlinien und verbleibt über den Dingen, so wie z.B. der Prophet Schemuel über dem Königtum stand und die Könige in ihr Amt einsetzte.

Die geistigen Führer dürfen nicht politischen Erwägungen unterworfen sein. Auch diejenigen, die sich mit der technischen Seite der Politik befassen, müssen rechtschaffen sein, genau wie jeder Geschäftsmann sein Geschäft ehrlich und rechtschaffen zu führen hat, und wie jeder Soldat rechtschaffen zu sein hat. Der Politiker ist eine Art Kreuzung zwischen Geschäftsmann und Soldat, der auch „im Tale des Todesschattens“ (Psalm 23,4) ehrlich und aufrichtig seinen Weg gehen muss.

Dieser Artikel ist in der Monatsschrift „Iture Kohanim“ der Jeschiwa Ateret Kohanim, Jerusalem – Ausgabe-Nr. 70 Tevet 5751 erschienen. 

Der Autor ist Leiter der Jeschiwa und Oberrabbiner von Bet El. Übersetzung: Rafael Plaut, Chefredakteur der Webseite: KIMIZION

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