Die Sudeten von Palästina (4)

Im Sommer 1937 übte Hitler Druck auf Prag aus, Zugeständnisse in der sudetendeutschen Frage zu machen, und komplettierte gleichzeitig seinen militärischen Plan zur Invasion.

7 Min.

Dr. Steven Plaut

gepostet auf 05.04.21

Im Sommer 1937 übte Hitler Druck auf Prag aus, Zugeständnisse in der sudetendeutschen Frage zu machen, und komplettierte gleichzeitig seinen militärischen  Plan zur Invasion der Tschechoslowakei. Der Leiter der SdP, Konrad Henlein, ging in die diplomatische Offensive, bereiste westliche Hauptstädte und forderte die Anerkennung sudetendeutscher Rechte.

Als wahrer Sudeten-Arafat versuchte Henlein zunächst, die europäischen Regierungen davon zu überzeugen, dass sich seine Ambitionen auf  Autonomie für die Sudetendeutschen beschränkten. Doch seine Äußerungen wurden von Mal zu Mal militanter. Gäbe es einen deutschen Ausdruck für "Dschihad", hätte ihn Henlein sicher benutzt, wie Arafat es ja zu genüge tat.

Am 1. Januar 1938 sagte Henlein: "Das tschechoslowakische Volk muss erkennen, dass es kein Abkommen mit unserem großen Nachbarn Deutschland geben wird, ohne dass die  Sudetendeutschen zufriedengestellt wurden". 1938 beschloss die SdP das Karlsbader Acht-Punkte-Programm. Dieses Manifest, weit gemäßigter als die immer noch unwiderrufene Palästinensische Nationalcharta der PLO, verlangte im Prinzip eine Teilung der Tschechoslowakei und die Abtretung des Sudetenlandes an Deutschland. Im Gegensatz zur PLO-Nationalcharta schien die Position der SdP wenigstens die Möglichkeit der Koexistenz mit einer Rumpf-Tschechoslowakei nach ihrem Rückzug offen zu lassen.

So nahm ein internes Problem über Minderheiten-"Rechte" schnell internationale Dimensionen an. Als Reaktion auf Nazi-Proteste begannen die Westmächte, Prag zum Einlenken bezüglich der sudetendeutschen Forderungen zu bewegen. Schon im Juli 1936 beschwor Anthony Eden, der britische Außenminister, die Tschechoslowakei, den Sudetendeutschen volle Autonomie zu gewähren. Henlein besuchte mehrmals London, wo er wie ein Staatsoberhaupt empfangen wurde, so wie die fast universale Krönung Arafats durch die politischen Führer der Welt einige Jahrzehnte später.

Der tschechische Historiker Radomir Luza verglich die auf Henlein gehäuften Ehrungen mit dem Londoner Empfang des tschechoslowakischen Präsidenten Benesch, der nach seinen Worten "mit mehr Anmaßung als ein afrikanischer Stammeshäuptling behandelt wurde". Würde er heute leben, hätte er sicher hinzugefügt: "Fast wie Netanyahu".

Nach dem Anschluss Österreichs wuchs die massenweise Unterstützung der SdP unter den Sudetendeutschen wie Gewalt und Massendemonstrationen gegen die Tschechoslowakei. Henlein trieb den Krieg der Worte und der Straßengewalt auf die Spitze, bezeichnete das Prager Regime als "hussitisch-bolschewistische Kriminelle", was man mit den arabischen Äußerungen über "zionistisch-imperialistische Kriminelle" vergleichen könnte. Drohungen seitens des Dritten Reiches erhielten einen immer unheilvolleren Unterton. Erste Berichte über deutsche Truppenkonzentrationen nahe der  tschechoslowakischen Grenze trafen ein. Täglich verurteilte Deutschland die Tschechen als "die wahren Friedensstörer in Europa", während das Reich selbst schon den Krieg plante.

Unter dem Druck der Westmächte stimmten die tschechoslowakischen Führer Verhandlungen mit der SdP zu und legten ihren eigenen Plan für beschränkte Autonomie vor. Auf Befehl von Hitler wies die SdP den Plan entschieden zurück. London setzte Prag wiederholt unter Druck, den Plan annehmbarer zu machen und einer Volksabstimmung in den Sudeten zuzustimmen, obwohl es offensichtlich war, dass so ein Plebiszit zur Teilung der Tschechoslowakei führen würde.

Im Gegensatz zur allgemeinen Stimmung der Beschwichtigung gab es einige westliche Proteste, die jedoch im Allgemeinen ignoriert wurden. William Srang, Leiter der  zentraleuropäischen Abteilung des britischen Außenministeriums, warnte: "Selbst wenn es keinen einzigen Deutschen in der Tschechoslowakei gäbe, bliebe das fundamentale Problem in den deutsch-tschechoslowakischen Beziehungen bestehen, nämlich ein slawischer Staat mitten im Herzen Deutschlands … Die deutsche Regierung … benutzt die  sudetendeutsche Frage als Instrument zur Stärkung ihrer politischen und militärischen Position". Hätte sich doch solche Ehrlichkeit von den Arabisten des amerikanischen State Departments in den 90er Jahren hören lassen. 

Von Anfang an argumentierte die Tschechoslowakei, dass die Frage der sudetendeutschen "Selbstbestimmung" nur ein Ablenkungsmanöver war. Den wahren Grund für die mitteleuropäische Krise bildeten die aggressiven Absichten des Dritten Reiches. Dennoch fuhren die Demokratien fort, den Konflikt als Frage von Minderheitenrechten und  Selbstbestimmung zu sehen. England und Deutschland hielten Gespräche ab und verabschiedeten eine gemeinsame Erklärung, worin sie die Rechte der Sudetendeutschen  bekräftigten, ohne jedoch die Sicherheitsbedürfnisse der Tschechoslowakei nur mit einem Wort zu erwähnen – ein Vorgeschmack für das Verhalten der Vereinten Nationen einige Jahrzehnte später.

1938 verlangte London – und Prag akzeptierte – einen britischen Unterhändler, obwohl die Tschechoslowakei immer darauf bestanden hatte, dass es sich bei der Sudetenfrage um  ein internes Problem handele, das die internationale Gemeinschaft nichts anginge. London beauftragte dazu den für seine starken Sympathien für Deutschland bekannten Lord  Runciman. In seinem Bericht an den britischen Premierminister, Neville Chamberlain, empfahl er, jegliche Agitation innerhalb der Tschechoslowakei gegen die Nazis zu untersagen, was eine gewisse Ähnlichkeit mit der im McCarthy-Stil geführten Kampagne der israelischen Linken einige Jahrzehnte später gegen mit "krimineller Aufhetzung und Aufruhr" beschuldigten Anti-Oslo-Dissidenten hatte. Runciman fügte hinzu: "Tschechoslowakische Herrschaft in den Sudetengebieten war in den letzten 20 Jahren zwar keine aktive Unterdrückung, … doch gekennzeichnet von Taktlosigkeit, fehlendem Verständnis, kleinlicher Intoleranz und Diskrimination bis hin zu dem Punkt, wo sich die Empörung der deutschen Bevölkerung unausweichlich in Richtung Aufruhr bewegte".

Man ändere nur die Namen, und schon ergibt sich die fast universal akzeptierte "Erklärung" für die Intifada. Während der Verhandlungen war die Tschechoslowakei gezwungen, eine deutsche Forderung nach der anderen anzunehmen. Unter westlichem Druck stimmte Prag den "Karlsbader 8 Punkten" als Grundlage für die Verhandlungen zu. Nach jedem einseitigen Prager Nachgeben stellte die SdP neue Forderungen, da sie aus Berlin den Befehl hatte, sich auf keinerlei echte Vereinbarung einzulassen. Die deutsche Strategie war auf Fehlschlag der Verhandlungen ausgelegt, sodass das Reich militärisch intervenieren musste. Henlein erhielt die Weisung für den  unwahrscheinlichen Fall einer vollständigen Prager Kapitulation vor dem Karsbader Programm, neue Forderungen zu stellen, die die Fähigkeit einer eigenständigen tschechoslowakischen Außenpolitik beschränkten und somit die Souveränität kompromittiere. Jahre später machte eine arabische Welt jede Vereinbarung mit Israel davon abhängig, dass es das "Recht auf Rückkehr" außer Kraft setze und seine Souveränität in Fragen der  Einwanderungspolitik aufgäbe, neben anderen Zugeständnissen.

Als sich die Spannung an den Grenzen dem Höhepunkt näherte, setzte sich die Tschechoslowakei in militärische Alarmbereitschaft. Wie die israelischen Verteidigungsstreitkräfte stützte sich das tschechoslowakische Militär weitgehendst auf ein System der notfallbedingten Mobilisierung von Reservisten. Als die Reserven einberufen wurden, übte der Westen Druck auf Prag zu deren Demobilisierung aus, um Berlin nicht zu provozieren. Prag verblieb auf seinem Standpunkt und wurde dafür von einigen im Westen der Kriegshetze bezichtigt.

Die meisten der ethnischen Deutschen folgten nicht dem Einberufungsbefehl. Während der Mobilmachung wurden zwei deutsche Bürger von tschechoslowakischen Wachen  getötet, und Hitler zeterte gegen die tschechischen Aggressoren.

Schließlich stimmte die Tschechoslowakei einer Vereinbarung zu, die im Wesentlichen einer Kapitulation vor dem Karlsbader Programm gleichkam. Am 13. September 1938, noch bevor die SdP offiziell Stellung nehmen konnte, brachen Intifada-Unruhen im Sudetenland aus. Organisiert von der SdP griffen die Aufständischen Juden, Tschechen und Demokraten an und feuerten auf tschechoslowakische Polizisten. Die tschechoslowakische Armee sorgte wieder für Ordnung und verhängte Kriegsrecht, während die SdP-Führung nach Deutschland floh. Vermehrter Druck auf die  Tschechoslowakei ließ die Sudetendeutschen ein Gefühl der Oberhand spüren.

Am 19. September schlugen England und Frankreich vor, alle Gebiete der Tschechoslowakei mit mehr als 50% deutscher Bevölkerung an Deutschland zu übertragen. Zum Ausgleich boten sie der Tschechoslowakei internationale Garantien für die neuen Grenzen nach der Teilung an. Tatsächlich wurde nie so eine formelle Garantie empfangen. Früher hatten dieselben westlichen Mächte natürlich versprochen, die tschechoslowakische Souveränität über ihr gesamtes Staatsgebiet zu verteidigen.

Am 29. September 1938 trafen sich die europäischen Führer in München und besiegelten das Schicksal der Tschechoslowakei. Es war kein Vertreter der Tschechoslowakei anwesend. Am 1. Oktober zog die Wehrmacht ins Sudetenland ein. Andere Teile der Tschechoslowakei wurden Polen und Ungarn zugeschlagen. Die meisten tschechoslowakischen Grenzbefestigungen befanden sich in der tschechischen "Westbank", die an Hitler abgetreten wurde.

Die Deutschen implementierten sofort ihr Programm der Gleichschaltung, unterdrückten die tschechische und die slowakische Sprache, konfiszierten tschechoslowakisches Eigentum und zwangen eine Dreiviertelmillion Tschechoslowaken, die in den abgetretenen Gebieten verblieben waren, mit vorgehaltenen Bajonetten zur Emigration. Gleichzeitig röhrte die deutsche Propagandamaschine gegen die Verweigerung von National- und Menschenrechten an die noch im Gebiet der Rumpf-Tschechoslowakei verbliebenen Deutschen. Deutschland verlangte das Recht auf Selbstbestimmung auch für diese, so wie es die Araber immer deutlich machten, dass ein palästinensisches Staatswesen nicht die Notwendigkeit für die Gewährung von Selbstbestimmung an die in Israel innerhalb der Grenzen von vor 1967 lebenden Araber ausschlösse.

Am 12. März 1939 fanden Demonstrationen in allen übriggebliebenen tschechoslowakischen Städten mit einem Anteil deutscher Bevölkerung statt. Am 15. März vervollständigte die deutsche Armee die Zerstörung der Tschechoslowakei, und die Sudetenbevölkerung war endlich befreit und erhielt ihre nationalen Rechte und Selbstbestimmung. Kein einziges Land rührte auch nur einen Finger.

Der tschechische Historiker Luza hatte bemerkt: "Die Frage der Sudetendeutschen war nicht der Grund für das Geschehen, sondern ein Vorwand. Der wahre Grund, wie die Deutschen selber zugaben, war die Weigerung des tschechoslowakischen Staates, ein Vasall der Deutschen zu werden". Hitler bestätigte dies am 23. Januar 1942, als er sagte:  "Kurz gesagt, die Tschechoslowaken sind ein Fremdkörper inmitten der deutschen Gemeinschaft. Da ist kein Raum sowohl für sie als auch für uns. Einer muss Platz machen".

Als die arabische Welt nach 1967 das plötzliche Bedürfnis der Palästinenser nach  "Selbstbestimmung" entdeckten, machte sie gleichzeitig deutlich, dass das Erreichen  solcher "Selbstbestimmung" im Jordanwestufer und Gasastreifen eine Vorbedingung für jeglichen Friedensvertrag darstelle, statt eines der daraus resultierenden Ergebnisse. Die PLO machte deutlich, dass sie sich an diesen Standpunkt hält, wie fast die gesamte arabische Welt, wobei Ägypten und Jordanien eine gewisse Zweideutigkeit an den Tag legen. So wie Deutschland fortfuhr, weitere Zugeständnisse von Prag für die tschechischen Deutschen, die in der Rumpf-Tschechoslowakei nach der Teilung aufgrund des Münchner Abkommens verblieben waren, zu verlangen, werden PLO und die arabischen Staaten unausweichlich die traurige Lage unterdrückter und misshandelter Araber in einem Rumpf-Israel innerhalb der "grünen Linie" entdecken. Forderungen nach Selbstbestimmung für die Araber des Galils, des Negev, des Dreiecks, und dann die in Ramle, Haifa und Jaffa werden erwachen. Ohne Zweifel würde die "Galilee Liberation Organization" ganz oben auf der politischen Tagesordnung stehen.

Arabische Aggression gegen Israel hatte nie auch nur das Geringste mit irgendeiner arabischen Sorge um die Rechte und die Behandlung der Palästinenser zu tun, wie ihr eigenes Vorgehen gegen ihre eigenen Araber mehr als deutlich macht. Das Verhalten der arabischen Welt gegen in ihrer Mitte lebende nichtarabische Minderheiten gehört zum schlimmsten auf der Welt. Die arabische Bestürmung Israels fußt auf nichts Anderem als die Entschlossenheit, Israel aus seinem Lebensraum zu vertreiben.

Es gibt natürlich einige bedeutende Unterschiede zwischen dem Feldzug für palästinensische und dem für sudetendeutsche Selbstbestimmung in den 30er Jahren. Anders als Nazideutschland haben die meisten arabischen Staaten und die PLO niemals vorgegeben, dass die Abtretung von Gebieten durch Israel ihre Forderungen befriedigen würde. Die westlichen Demokratien haben niemals Abkommen über gegenseitige Verteidigung mit Israel unterzeichnet, so wie sie es mit der Tschechoslowakei taten. Im Gegensatz zu Israel vertrieb die befreite Tschechoslowakei sofort nach dem Ende des zweiten Weltkrieges praktisch alle Sudetendeutschen von ihrem Gebiet und weigerte sich seitdem, an Verhandlungen über ihre Rückkehr oder Entschädigung auch nur zu denken.

Diesen "Bevölkerungstransfer" hat der Rest der Welt längst vergessen. Der wichtigste Unterschied jedoch besteht darin, dass die Tschechoslowakei 1938 nicht fähig war, sich militärisch zu verteidigen und das Nazi-Militär zurückzuschlagen.

Es wäre sicher faszinierend, sich vorzustellen, was passiert wäre, wenn die tapferen Tschechoslowaken die Wehrmacht besiegt und Bayern als Faustpfand besetzt hätten. Hätte die Weltgeschichte den Nahostkonflikt vorweggenommen? Hätten die Führer der Welt "tschechischen Militarismus und Aggression" verurteilt und sich um Wiederbewaffnung der Naziopfer des "tschechischen Imperialismus'" gedrängt? Mit Protesten aus aller Welt über die Misshandlung von Sudetendeutschen und Bayern durch fanatische Tschechen? Nobelpreis für Henlein? Mit tschechischen Linken und Diaspora-Tschechen in Amerika die böse Prager Regierung verurteilend, die aus Leuten besteht, die Land vor Frieden setzen…?

Und alle wären sich natürlich darüber einig, dass in der Selbstbestimmung für die Sudetendeutschen der Schlüssel zum Weltfrieden liege …  
 
Dr. Steven Plaut lehrt Geschäftsführung und Wirtschaftslehre an der Universität Haifa, Israel. Übersetzung: Rafael Plaut, Chefredakteur von: Kimizion

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