Die Angst der Spione

Mosches Kundschafter fürchteten sich vor der Zukunft. Deshalb redeten sie das Gelobte Land schlecht ...

4 Min.

Rabbiner Nosson Wolf Kaplan

gepostet auf 04.04.21

Mosches Kundschafter fürchteten sich vor der Zukunft. Deshalb redeten sie das Gelobte Land schlecht.
Die Entsendung der Meraglim (Spione) nach Eretz Israel und ihre Bestrafung war wohl eines der bedeutendsten Ereignisse für die Generation der Israeliten auf ihrer Wanderung durch die Wüste. Die Meraglim hatten das Heilige Land negativ dargestellt, dadurch schlichen sich bei den Israeliten Zweifel ein, ob sie tatsächlich noch weiter in Richtung Gelobtes Land wandern sollten.

 

Die Folge war, dass diese Generation das Land nicht betreten durfte. Für ihre üble Nachrede (Laschon hara) wurden sie Maß für Maß (Mida keneged Mida) bestraft. Nachdem das Volk sich von dieser unglaublichen Nachricht erholt hatte, gab G’tt ihnen drei Mizwot: Challa – die Absonderung eines Teiles vom Brotteig an die Kohanim (Priester) –, Nisuch HaMajim – das Begießen des Altars mit Wein und Wasser – sowie das Gebot der Zizit.

 

Doch was hat das eine mit dem anderen zu tun? Warum gibt der Ewige den Israeliten ausgerechnet jetzt, nach dem traurigen und tragischen Ereignis, diese drei Gebote?

 

Rabbiner Chaim Jaakov Goldvicht (1924–1995) erklärt, dass die Meraglim sich zudem Sorgen um die Sicherung ihrer Existenz im neuen Land machten. Die Wüste war eine spirituelle Oase, sie waren dort mit allem gut versorgt: Das Brot wurde ihnen quasi auf goldenem Tablett serviert, das Wasser kam aus dem Wunderbrunnen, beschützt wurden sie von den Wolken der g’ttlichen Herrlichkeit (Ananej HaKavod). Sie konnten ungestört Tora lernen und G’tt dienen, immer beschützt, immer versorgt.

 

Die Meraglim hatten Angst, dass der Übergang zu einer neuen Lebensweise für das Volk zu schwierig werden würde. Um diesen Wandel meistern zu können, brauchte es Führer, die mit der neuen Lebenssituation vertraut waren.

 

Die Meraglim begriffen nicht, dass G’tt die Menschen dafür erschaffen hatte, die Erde zu einem besseren Ort zu machen und jeder noch so kleinen, noch so profanen Tätigkeit einen höheren, spirituellen Sinn zu verleihen. So ist die Landwirtschaft im Land Israel mit vielen Geboten verbunden, wie dem Schmitta- und dem Schabbatjahr sowie der Truma-Opfergabe. Diese Mizwot zu erfüllen, vereint das Materielle mit dem G’ttlichen. Das Landleben entfernt uns nicht vom spirituellen Leben, sondern lässt es uns auf eine neue Art erleben.

 

ASPEKT Der Siddur Sefat Emet erklärt, G’tt habe das Problem erkannt und seinem Volk drei bestimmte Gebote gegeben, um den Menschen die Angst vor dem neuen Leben im Gelobten Land zu nehmen. Jedes der Gebote hing mit einem Aspekt der Lebensweise in der Wüste zusammen.

 

Es muss Challa vom Teig abgesondert werden als Truma (Beitrag) für den Ewigen. Truma leitet sich von dem Verb »leharim« ab, auf Deutsch »erheben«. Man gab die Challe denjenigen, die ihr Leben in den g’ttlichen Dienst gestellt hatten. Nisuch HaMajim, die Wasser- und Weinopfer, die auf den Altar gegossen wurden, symbolisieren den Ausdruck menschlicher Anerkennung, dass aller Segen auf dieser Welt von G’tt kommt.

 

Das dritte Gebot ist, Zizit zu tragen, an den vier Ecken eines rechteckigen Kleidungsstücks befestigte Schaufäden. Die Bekleidung ist der einfachste Schutz eines Menschen. Dieses Gebot erinnert uns daran, dass wir an jeder »Ecke« unseres Lebens einen spirituellen Sinn finden können.

 

ARBEIT Betrachtet man die Lage der Israeliten im Licht dieser Gebote, stellt sich das Leben im Gelobten Land ganz anders dar, als es die Meraglim beschrieben haben. Zwar muss das Brot jetzt hart erarbeitet werden, aber die Menschen werden es heiligen und auf ein höheres Niveau heben, da es durch die Trumat Challa ein höheres Ziel hat. Fürs Trinken müssen die Israeliten jetzt selbst sorgen, aber sie werden es heiligen – durch die Weinopfer auf dem Opferaltar. Sie werden sich jetzt selbst um Kleidung kümmern müssen, aber auch das wird nun spiritualisiert – durch das Zizit-Gebot.

 

Den Übergang vom Leben bei den Eltern hinaus in die Selbstständigkeit muss jeder Heranwachsende meistern. Er muss das »Hotel Mama« verlassen und aufbrechen in eine neue Realität als Erwachsener. Viele junge Menschen vertreten radikale oder sehr idealistische Ansichten – aber wie viele von ihnen leben diese Ideale auch später weiter, wenn sie einen eigenen Haushalt führen, ihr Brot selbst verdienen und für die eigene Familie sorgen müssen?

 

RAT Warum teilte Jehoschua die Ängste der Meraglim nicht? Die Antwort finden wir in den Worten unserer Weisen: Er hat sich nie vom Stiftszelt entfernt. Nachdem alle nach Hause gegangen waren, blieb er weiter dort. Er hat immer eine Verbindung zu seinem Mentor Mosche aufrechterhalten. Er wusste, dass er Mosche immer um Rat fragen konnte.

 

Eine interessante Idee finden wir in den Pirkej Awot, den Sprüchen der Väter, einem Buch, das sich nicht mit halachischen, sondern auch mit ethischen Fragen beschäftigt. Darin finden wir schon im ersten Abschnitt den Rat: »Assehlecha Rav« – »Such dir einen Lehrer!« Diese Empfehlung wird sogleich wiederholt. Rabbi Jehuda Löw, der Maharal von Prag (um 1525–1609), erklärt, dass es sich hier um zwei verschiedene Lehrer handelt: Der eine vermittelt das Alefbet, Toralesen, Mischna, Halacha und der andere ist dazu da, durchs Labyrinth des Lebens zu führen.

 

Genau das war das Problem der Meraglim: Sie schafften den Übergang nicht von einer Umgebung voller Keduscha (Heiligkeit) in ein Leben, das materielle Probleme kennt. Der Grund dafür war, dass sie zwar das erste »Asseh lecha Rav« vollzogen hatten, aber nicht das zweite. Sie hatten sich niemanden gesucht, der sie durchs Labyrinth des Lebens führen konnte.

 

Sie waren nicht die Art Schüler wie Jehoschua. Hätten sie es ihm gleichgetan, käme der Ratschlag, den sie erhielten, vom größten Lehrer aller Zeiten: von Mosche. Jehoschua hat sich an seinen Lehrer nicht nur in halachischen Fragen gewandt, sondern auch in allen anderen. Die Ratschläge die er erhielt, halfen ihm, zu wachsen und sein spirituelles Potenzial auszuschöpfen. Deshalb wurde er zum Anführer des Volkes.

 

Der Autor ist Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz (ORD). Dieser Artikel erschien in der Jüdischen Allgemeinen.

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