Stinkefinger-Fraktion

Wer heute mit dir über andere redet, wird morgen mit andere über dich reden.

8 Min.

Rabbiner David Kraus

gepostet auf 04.04.21

Es gab einen großen Rabbi hier in Israel. Er war verstorben. Er hatte viele Schüler, aber einer unter ihnen war sein engster und treuester Schüler, er war immer mit ihm, hatte ihn stets begleitet, bei den Vorträgen seines Rabbis war er immer mit dabei, und er war auch immer der Erste, der seinen Rabbi von A nach B fuhr. So dann auch am Sterbebett. Sein treuer Schüler stand neben ihm. Am Sterbebett aber, passierte etwas, was ihn erschütterte. Sein Rabbi lag im Sterben und gab kein Wort mehr von sich. Doch dann, mit all seiner letzten Kraft stemmte sich der Rabbi hoch und sagt seine letzten Worte: „Ich habe alle Karten der thailändischen Gogo-Tänzerinnen gekauft.“

 

Der Rabbi fiel nach hinten und starb daraufhin. Der Schüler dachte, er höre nicht richtig. Jetzt konnte er niemanden mehr fragen, was es mit den Tickets auf sich hatte.

 

Der Schüler war schockiert! Der letzte Satz des Rabbis war so etwas wie ein ewiges Testament. Die anderen Schüler hatten ihn, der den Rabbi am Sterbebett beistand, gefragt, ob der Rabbi noch etwas sagte. Was sollte er ihnen erzählen? Konnte er jemand danach fragen? Nein, weil die Welt eine Stinkefinger-Welt ist!

 

Jeder weiß, was der Stinkefinger ist. Aber der wahre Stinkefinger ist der Zeigefinger, weil die Menschheit immer mit dem Zeigefinger auf jemand hinzeigt. Dieses Verurteilen: „Du bist schlecht! Du bist ein Verlierer! Du bist der geborene Loser! Du!“ Das sofortige „Ich hab´s gewusst!“

 

In solch einer schlechten Gesellschaft leben wir! Das ist die Stinkefinger-Gesellschaft! Auch in der Begebenheit mit diesem Rabbi wäre es passiert, wenn der Schüler den anderen die letzten Worte des Rabbis ausgerichtet hätte. Dann hätten sie ihn sofort durch den Kakao gezogen – die Presse, die Medien, alle Nachbarn. Jeder reißt ganz groß sein Maul auf und redet. Deswegen sage ich immer: „Pass auf! Wer heute mit dir über andere redet, wird morgen mit andere über dich reden.“ Pass auf! So kannst du dir deine Freunde aussortieren.

 

Mit diesem Stinkefinger wird dann alles sofort in den Dreck gezogen: „So sind sie, die Rabbiner!“, das wären die Kommentare aller Leute die ohne etwas zu hinterfragen gleich den Stinkefinger kritisch geradeaus auf den Ruf des Rabbis strecken würden.

 

Neulich hat mich eine Frau angerufen. Sie erzählte mir von ihrem Mann, dass er sie betrügt. Sie will trotzdem versuchen, ihre Beziehung zu retten, weil sie drei behinderte Kinder haben. Er liebt sie und sie ihn, aber er ist halt krank, hat seinen Sexualtrieb nicht unter Kontrolle, so meinte sie. Sie bat mich, ihm zu helfen, und ob ich eine Idee hätte. Ich stimmte ihr zu.

 

Sie antwortete: „Sehr gut. Ich möchte gerne mit meinem Mann zu dir kommen.“

 

Sie fragte mich, ob sie am Freitagnachmittag kommen kann. Sie ist keine religiöse Frau.

 

So gab ich ihr zur Antwort: „Freitag ist Schabbat.“

 

Dann sagte sie zu mir: „Bist du orthodox? Bist du gläubig?“

 

Ich: „Ich bin gläubig. Ich bin orthodox.“

 

Sie: „Mein Mann sagt, er liebt euch nicht. Wenn ich ihm sage, dass du orthodox bist, kommt er nicht.“

 

Ich dachte mir, ihr Mann liebt auch sie nicht. Wer seinen bedeutendsten Menschen, seine Partnerin über Jahre so überfährt, der liebt niemanden. Dieser Mann ist auch solch ein Zeigefinger-Typ.

 

Ich sagte zu ihr: „Ich kenne das.“

 

Wenn ich eine Statistik erstelle, dann glaube ich, dass 70 Prozent der Menschen, die zu mir kommen und sagen: „Mir bringen die Ratschläge eines Rabbiners nichts!“

 

Und die 70 Prozent lieben mich heute mehr als die 30 Prozent, die ohne Vorurteile zu mir gekommen sind.

 

Also sprach ich zu ihr: „Ich schaffe es schon, mit deinem Mann zu reden. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.“

 

Sie hatte es sich überlegt und sich anders entschlossen. Sie hatte auch mit einigen anderen Paartherapeuten telefoniert. Ihr Mann ist zu einem dieser Paartherapeuten gegangen und sprach mit ihm über ihre Situation.

 

Diese Frau rief mich nochmals an und erzählte mir, dass sie ihren Mann zu einem anderen Paartherapeuten geschickt hätte und alles noch viel schlimmer gekommen sei. Der Therapeut hatte ihn davon überzeugt, dass er sich scheiden lassen soll – mit dem Spruch: „Mit der Freiheit kommt das Glück. Mit der Freiheit kommt der Spaß. Mit der Freiheit kommt die Zufriedenheit.“

 

Als ob er gefangen sei in der Ehe. Tatsächlich ist aber nur in der Liebe die Freiheit zu finden.

 

Es gibt nur eine Pflicht in der Welt: die Pflicht, zu lieben. Ein Mensch muss sich engagieren. Überprüfe als erstes, ob es eine Liebe ist.

 

Ich zu der Frau: „Wie soll ich dir jetzt helfen?“

 

Sie: „Mit der Freiheit kommt das Glück … Jetzt will er erst recht nichts von mir hören.“

 

Nun stellen wir uns mal vor, dass der Ehemann dieser Frau, die mich um Hilfe bat, über die Medien die letzten Worte des verstorbenen Rabbiners erfahren hatte: „Ich habe alle Karten der thailändischen Gogo-Tänzerinnen gekauft.“

Er darauf: „Bitte schön, da haben wir es! Das sind die Religiösen!“, wegen so einer vorweggenommenen Meinung wollte er auch nichts von mir hören. Bevor wir sehen, was da wirklich am Sterbebett passiert ist, will ich Dir noch eine Sache ans Herz legen: Sei du nicht jemand, der mit dem Stinkefinger durch die Welt geht. Wer mit dem Zeigefinger auf andere zeigt, auf den blicken drei Finger zurück. Urteile du dich lieber selbst. Ich hab genug mit mir selbst zu tun, da muss ich nicht über den und sie reden, über das und jenes.

 

Da kam einmal ein Mann zu mir, erzählte mir eine Geschichte aus seinem Leben. Hilft mir das? Bringt mich das voran? Wenn mich etwas persönlich nicht vorantreibt, dann will ich es nicht hören. Ich mache nicht mit bei einer Stinkefinger-Orgie, wo menschlicher Charakter umerzogen wird.

 

Und so wollte auch der Schüler nicht, dass sein Rabbi durch den Kakao gezogen wird. Aber was hat er gemacht? Er hat es einem Menschen erzählt. Er musste sich ja jemandem anvertrauen. Und schon ist die Presse angetanzt und hat den Rabbiner durch den Kakao gezogen, der jetzt im Grab liegt. Alle reden darüber, dass er alle Karten von den Tänzerinnen gekauft hätte.

 

Der große Rabbi Levinstein hatte davon gehört: „Das gibt es doch gar nicht. Ich kenne doch den Rabbi aus Petach Tikwa. Er ist ein richtiger Tzaddik, ein richtiger heiliger Mann. Das kann nicht sein. Das glaube ich nicht.“

 

Er begann die Sache nachzuforschen und ging zuerst zu dem treuen Schüler, der am Sterbebett stand, und fragte ihn: „Stimmt es, dass dies sein letzter Satz war?“

 

Der Schüler: „Ja, das hatte er gesagt.“

 

Der Rabbiner: „Wenn er das gesagt hat, dann ist hier etwas, was wir alle nicht verstehen.“

 

Der treue Schüler: „Das glaube ich auch, aber ich weiß nicht, was. Ich habe keinen Anhaltspunkt.“

 

Rabbiner Levinstein ist ein Mann der Wahrheit und begann der Sache auf den Grund zu gehen. Und er hat die Wahrheit entdeckt.

 

In den 60er, 70er Jahren hatte sich in der Stadt Petach Tikwa ein Open-Air-Event mit thailändischen Gogo-Tänzerinnen ereignet. Der Rabbi von Petach Tikwa hatte gehört, dass ein Open-Air-Festival stattfindet mit diesen ganzen Sünden, die dort dann herum hüpfen. Er wollte nicht, dass die Menschen mit so etwas unmoralischen Spaß haben. Also kaufte er alle Karten des Open-Air-Festivals. Er ging zur Bank, nahm einen Kredit auf und kaufte alle Eintrittskarten auf. Dieses Festival fand daraufhin natürlich nicht statt. Die Arena war leer. Niemand war da.

 

Rabbiner Levinstein wurde gefragt: „Was konnte er damit schon erreichen, dass er alle Karten aufgekauft hatte. Das Festival wurde sicher an andere Orte verlegt.“

 

Der Rabbi aus Petach Tikwa war kein Millionär und konnte deshalb nicht erneut oder immer wieder alle Karten von so einem schmutzigen Open-Air-Festival aufkaufen. So hatte er sich überlegt, dass es wirklich dumm war, einen Kredit für den Kauf der Karten aufzunehmen. „Nichts hat es mir gebracht. Die Epidemie konnte ich nicht stoppen. Sie geht weiter.“

 

Der große Rabbi aus Petach Tikwa ging zu Rabbi Kanievsky und erzählte ihm diese Story: „Das war blöd von mir. Jetzt habe ich einen Fehler gemacht.“

 

Rabbi Kanievsky: „Nicht blöd. Clever! Und zwar richtig clever!“

 

Der Rabbi aus Petach Tikwa: „Wieso clever?“

 

Rabbi Kanievsky: „Mit den Karten, die du gekauft hast, hast du dir die Eintrittskarte fürs Paradies gekauft.“

 

Und das sagte der Rabbi aus Petach Tikvah – mit seiner letzten Kraft – am Sterbebett. Er rüttelte sich auf und meinte mit dem letzten Satz: „Ich gehe jetzt ins Paradies.“ Weil ihm die Kraft fehlte, alles zu erzählen, sprach er: „Ich habe alle Karten der thailändischen Gogo-Tänzerinnen gekauft.“„Und das ist meine Eintrittskarte ins Paradies.“ Das ist die Wahrheit.

 

Wer aus der Stinkefinger-Fraktion wäre darauf gekommen – auf diese Wahrheit? Wir dürfen dabei nicht mitspielen. Du weißt nichts. Du siehst nur die Spitze des Eisberges, aber nicht das, was sich unter der Wasseroberfläche verbirgt.

 

Und auch wenn es dir in deinem Leben schlecht geht, dann weißt du auch nichts. Dann darfst du keinen Stinkefinger auf Gott richten und sagen: „Schau, wie Er mich leiden lässt! Schau, wie Er mich schlecht macht!“

 

Das stimmt nicht! Gott macht nichts Schlechtes. Er macht alles gut. Wir verstehen es bloß nicht. Wir kennen nicht die ganze Wahrheit. Wir hören nur einen Satz: „Ich habe die Karten gekauft.“ Nur das hören wir und es erschüttert uns. Denn wenn du alles verstehen würdest, dann würdest du dich dafür schämen, dass du den Stinkefinger nach oben gerichtet hast.

 

Es gab einen Stinkerfinger-Mann, der konnte nicht aufhören, schlecht über seinen Nachbar zu reden. Irgendwann wurde es dem Nachbar, dessen Name so in den Dreck gezogen wird, zu blöd, ging dann zu einem Anwalt und zeigte ihn an. Vor Gericht wurde dann Mr. Großmaul geladen.

 

Der Richter fragte ihn: „Warum haben Sie Ihr Maul so weit aufgerissen? Da haben Sie sich ein wenig zu weit aus dem Fenster gelehnt. Denken Sie nicht, dass Ihre Verleugnungen etwas zu extrem waren?“

 

Da sagte Mr. Großmaul: „Wieso? Was habe ich denn schon großartig gemacht? Ich hab nur paar Sachen erzählt. Was soll da schon großartig passieren mit den paar Aussprüchen, die ich da von mir gegeben habe? Ich hatte keine Absicht, sondern ich wollte es einfach mal sagen. Das sind Smalltalks.“

 

Der Richter war richtig clever und sagte zu ihm: „Okay, bitte geben Sie dem Mr. Großmaul ein Blatt Papier und einen Stift.“ „Mr. Großmaul, schreiben Sie mal bitte alle Smalltalks, alle Aussprüche, die Sie von sich gegeben hatten – ohne eigene Absicht –, auf dieses Blatt Papier, alles.“

 

Der Anwalt von dem Nachbar, der durch den Dreck gezogen wurde, forderte Mr. Großmaul auf, all das, was er in Smalltalks verbreitete, auf diesem Zettel zu dokumentieren. Der Richter las den Zettel, bat dann Mr. Großmaul, seinen Zettel zu zerreißen, in viele kleine Schnipsel und sprach zu ihm: „Jetzt gehen Sie bitte zum Fenster und werfen Sie die Papierschnipsel aus dem Fenster hinaus.“ Das tat er daraufhin.

 

Der Richter: „Vielen Dank. Wir treffen uns morgen um 8.30 Uhr in meinem Gerichtssaal. Da werde ich Ihnen mein Urteil verkünden.“

 

Alle gingen und verstanden nicht, was das für ein bizarrer Richter ist. Sie kamen am nächsten Tag um 8.30 Uhr in der Früh zurück.

 

Richter: „Bevor ich mein Urteil verkünde, möchte ich Sie etwas fragen, Mr. Großmaul. Können Sie sich noch daran erinnern? Sie haben das Blatt Papier gehabt, alle Ihre Smalltalks aufgeschrieben, zerrissen und aus dem Fenster geworfen.“

 

Mr. Großmaul: „Ja, natürlich. Daran kann ich mich noch erinnern.“

 

Richter: „Gehen Sie bitte raus aus dem Gerichtssaal, heben Sie die ganzen Papierfetzen auf und bringen Sie sie mir.“

 

Mr. Großmaul schaut den Richter an und sagt: „Wie soll das gehen? Die ganzen Papierschnipsel sind ja schon gar nicht mehr da. Der Wind hat sie überall hin verstreut. Wie soll ich das finden?“

 

Richter: „Genau so ist es mit Ihrem Smalltalks. Was sagten Sie gestern? – „Was habe ich schon gesagt? Nur bisschen Smalltalk. – Jedes Wort, das Sie sagen, ist so, als wenn Sie es auf ein Blatt Papier aufschreiben. Dieses Blatt Papier zerreißen Sie und werfen es aus dem Fenster. Diese Worte, die Sie da aufgeschrieben haben, trägt der Wind weiter.“

 

Rabbi Nachman aus Breslev lehrt uns in seinem Werk Likutey Moharan, Band 1, Lektion 63: „Oh Gott, hilf mir, dass ich Sprache nie unheilvoll gebrauche. Gib, dass kein unwahres Wort über meine Lippen kommt. Ich bete, dass ich nie schlecht von anderen spreche, oder hohle Gefälligkeiten von mir gebe. Hilf mir, mich vom Groben fernzuhalten. Lehre mich, lieber Gott, wann ich schweigen und wann ich reden soll; und wenn ich spreche, oh Gott dann behüte mich davor, jemals einen anderen zu erniedrigen oder zu verletzen durch meinen Gebrauch Deines wunderbaren Geschenkes der Rede.“

 

Jedes Wort, das du aussprichst, trägt der Wind weiter. Der Wind bringt es zu einer anderen Person, pfeffert es noch richtig schön und fliegt weiter zum Nächsten. Und so ist der Ruf eines Menschen bald total ruiniert wegen nichts und wieder nichts.

 

Täglich grüßt das Murmeltier – diese Tiere, die ständig herum murmeln, diese Stinkefinger-Fraktion erfindet immer wieder etwas Neues.

 

Wer heute mit dir über andere redet, wird morgen mit andere über dich reden.

 

 

David Kraus (M.A in Psychologie und Integrativer Psychotherapie | Dipl. Paar- und Familientherapeut | Dipl. Pädagogischer Elternberater) ist Oberrabbiner der Jüdisch-Chassidischen Kultusgemeinde Breslev Deutschland / Israel mit Sitz in Hanau. David Kraus finden Sie bei Facebook.

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