Herz vs. Fremdbestimmung

Wie kann es sein, dass der Funkkontakt zum eigenen Herzen heute so schnell abreißt?

3 Min.

Andrea Jockisch

gepostet auf 16.03.21

Viele Menschen verlieren ihr Leben, weil sie es abtreten an andere. Weil sie Ja sagen, wenn sie Nein meinen. Sie schwimmen mit dem Strom, aber gegen ihre Sehnsüchte, weil sie sich immer im Hinterkopf ständig fragen, was andere von ihnen halten könnten, wenn sie sich ihnen nicht anpassen.

Wer sich von der Fremdbestimmung beeinflussen lässt, der stellt sich oftmals die Frage: „Was hat dieses Leben eigentlich mit mir zu tun?“

 

Eine Umfrage ergab, dass vier von zehn Deutschen nicht zufrieden sind mit der Qualität ihres Lebens.

 

Wie kann es sein, dass der Funkkontakt zum eigenen Herzen heute so schnell abreißt? Dass die Erwartungen der Gesellschaft in unseren Köpfen mehr Raum einnehmen als die eigenen Sehnsüchte? Wie kann es sein, dass so viele Menschen ihr Leben verlieren, obwohl sie noch nicht gestorben sind?

 

 

Dazu ein anschauliches Beispiel aus einer Beratung:

 

„Das kann ich meinen Kolleginnen doch nicht antun!“, rief die einunddreißigjährige Verkäuferin Hanna H. entsetzt.

 

„Warum?“ fragte der Berater. „Sie haben mir doch gerade erzählt, dass Sie Ihre Filiale provisorisch seit einem Vierteljahr leiten. Dann wäre es nur konsequent, dass Sie sich auch offiziell um die Filialleitung bewerben.“

 

Sie winkte ab, als wollte sie einen ganzen Mückenschwarm verscheuchen. „Das würden mir die Kolleginnen nicht verzeihen. Ich bin eine von ihnen. Als Chefin wäre ich es nicht mehr.“

 

„Na und.“

 

„Aber ich will doch ein gutes Verhältnis haben. Gerade das schätze ich an meiner Arbeit.“

 

Der Berater ließ eine Pause entstehen. „Jetzt nochmal zum Mitschreiben: Sie machen seit drei Monaten die komplette Arbeit einer Filialleiterin, verzichten aber auf den Titel, auf das Gehalt und auf die Weisungsbefugnis einer Filialleiterin?“

 

„Es ist kein Verzicht. Ich will ja gar nicht.“

 

„Wollen Sie es tatsächlich nicht?“, fragte der Berater und sah sie ernst an. „Oder wollen Sie es nur deshalb nicht, weil Sie meinen, Ihre Kolleginnen wollten es nicht?“

 

Sie öffnete zweimal den Mund und schloss ihn wieder. Tonlos. Zum ersten Mal im Laufe der Beratung geriet sie ernsthaft ins Grübeln.

 

Hanna H. fragte sich eine Sekunde, was sie selber wollte – obwohl sie die Filiale offenbar gerne leitete. Stattdessen hatte sie ihr eigenes Meinungsgefäß mit den mutmaßlichen Erwartungen ihrer Kolleginnen gefüllt.

 

Sie war bereit, alles zu tun, um von ihren Kolleginnen geschätzt zu werden. Aber was hat sie tatsächlich getan, um ihre eigene Wertschätzung zu gewinnen? Sie bastelte sich aus den Erwartungen ihrer Mitmenschen ihr Gefängnis, an dessen Gitterstäben sie sich nicht zu rütteln traut – so, als müsse sie die Liebe aller Kolleginnen gewinnen, um ein Überleben zu sichern.

 

Wir sollten daran denken, dass jede Waage zwei Schalen hat. Meist wiegen wir die äußeren Anforderungen der anderen sorgfältig ab. Wie wäre es, mit den eigenen Wünschen dasselbe zu tun – und sie im Zweifelsfall schwerer zu gewichten?

 

Werde dir bewusst, dass du von der Gunst anderer nicht mehr abhängig bist wie als Kleinkind. Nicht jeder muss dich lieben, denn es reicht, wenn es die Richtigen tun, die auf dein Glück und auf dein Bestes besinnt sind.

Es ist dein gutes Recht, dich mit der Welt „auseinanderzusetzen“. Denn diese konsequente Abgrenzung ist nötig, um eigene Konturen zu gewinnen.

 

Menschen, die wissen, was sie wollen, erlangen Respekt und Ansehen. Diese Erfahrung hat natürlich auch Hanna H. gemacht: Sie rang sich mutig und selbstbewusst dazu durch, offiziell die Filialleitung zu übernehmen. Einige Kolleginnen reagierten nicht übereinstimmend; aber überraschend viele sahen diesen Schritt positiv und sagten zu Hanna H.: „Besser du als eine Chefin von außen.“

 

Ein Jahr später war sie als Filialleiterin von allen Seiten anerkannt und fühlte sich pudelwohl in ihrer Rolle.

 

Ist es nicht toll und ermutigend, wie ihre Entwicklung überraschend eine Wende nahm? Und alles nur, weil Hanna H. sich nicht von den Erwartungen anderer kleinreden ließ! Sie lernte, der Bestimmung ihres Herzens zu folgen und nicht der äußeren Fremdbestimmung, von der sie sich einst beherrschen ließ.

 

Es hat keinesfalls etwas mit kaltem Egoismus zu tun, wenn du deine eigenen Interessen in den Mittelpunkt stellst. Erinnere dich daran, was uns die Heilige Schrift sagt – es steht geschrieben: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!

Das wie dich selbst wird viel zu oft überhört! Du kannst nur so viel Liebe an andere aussenden, die du in dir selbst und für dich selbst erzeugst.

 

Wer sich selbst nicht aufrichtig mag, der wird auch keinen anderen aufrichtig mögen können. Darum ist es im besten Sinne sozial, dass du dich selbst liebevoll behandelst, deine Wünsche und Sehnsüchte ernst nimmst und dein Leben daran ausrichtest.

 

Erst deine eigenen Bedürfnisse, dann fremde Erwartungen.

 

 

* * *

 

Oh Gott,

sieh meinen Schmerz.

Sieh die ständige Anspannung und die Angst,

unter denen ich funktionieren muss –

unter denen ich nicht funktionieren kann.

Rühre mein Leben an mit Deiner Liebe,

mit Deiner Stärke,

mit Deiner Weisheit.

Auf mir lastet mehr,

als ich alleine tragen kann.

 

(Rabbi Nachman aus Breslev. Likutei Moharan, Band 1, Lektion 54)

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