Junge oder Mädchen?
Warum die Wahl des Geschlechts für den Nachwuchs aus jüdischer Sicht nicht erwünscht ist ...
Warum die Wahl des Geschlechts für den Nachwuchs aus jüdischer Sicht nicht erwünscht ist
Ein Kind im Reagenzglas mit Geschlecht »auf Bestellung« zu zeugen, ist schon lange möglich. Aber ist es vom jüdischen Standpunkt her auch vernünftig? In unserem Zeitalter droht die Fortpflanzung eine hochtechnisierte Angelegenheit zu werden, nur noch wenig Menschliches und G’ttliches ist an ihr. Gerade deshalb halte ich die Frage der Zulässigkeit der Geschlechtswahl eher für eine ethische oder religiöse als für eine medizinische Entscheidung.
In Deutschland ist Geschlechtsbestimmung nur aus medizinischen Gründen erlaubt. Doch in Belgien behandelt beispielsweise der Arzt Frank Comhaire Paare, die bereit sind, mehrere Tausend Euro zu zahlen für ein Kind, dessen Geschlecht sie sich aussuchen können.
REAGENZGLAS
Die Samenzellen werden dafür in die USA geschickt und aussortiert. Zurück in Belgien, werden sie im Reagenzglas befruchtet, und die befruchtete Eizelle wird in die Gebärmutter der Frau eingesetzt. Darf der Mensch das – sich auf G’ttes Thron setzen und mal eben so nach Lust und Laune Leben kreieren?
Die Geburt von Teresa Spina 1986 in Neapel hat in dieser Frage Fakten geschaffen: Sie war das erste europäische Baby, dessen Geschlecht durch einen genetischen Eingriff bestimmt wurde.
Aus dem Talmud (Babylonischer Talmud, Bawa Batra 10b und Nida 70b) entnehmen wir, dass das Judentum nicht negativ eingestellt ist gegenüber einer gewissen Einflussnahme auf das Geschlecht von Kindern oder auf die Veränderung der Qualität des Nachwuchses.
Es sieht sogar fast danach aus, als ob die Talmudgelehrten eine Einflussnahme bei der Empfängnis in gewissem Maße als positiv ansehen: »Rabbi Jochanan hatte die Angewohnheit, sich an den Ausgang der Mikwe zu setzen und zu sagen: ›Wenn die Frauen aus der Mikwe kommen, werden sie mich sehen und Kinder bekommen, die genauso schön und tüchtig sind in der Tora wie ich‹« (B. T., Berachot 20a).
FRUCHTWASSERPUNKTION
Doch aus jüdischer Sicht ist eine Geschlechtsselektion an befruchteten Eizellen oder Samenzellen unerwünscht. Denn in der modernen medizinischen Praxis ist es möglich, schon frühzeitig in der Schwangerschaft mittels einer Fruchtwasserpunktion oder Blutuntersuchung das Geschlecht des Fötus festzustellen.
Das wichtigste Argument gegen eine Liberalisierung der Geschlechtswahl – medizinische Gründe ausgenommen – ist: Aller Wahrscheinlichkeit nach wird dadurch ein Männerüberschuss in der Bevölkerung entstehen, weil viele Eltern sich eher einen Jungen als ein Mädchen wünschen. Eine Geschlechtsselektion befruchteter Eizellen oder Samenzellen ist daher auch eine verkappte Form von Abtreibung. Denn manche Eltern sehen im unerwünschten Geschlecht einen Grund für einen Schwangerschaftsabbruch.
Eine Selektion nach der Empfängnis ist im Judentum verboten. Die Entscheidung, einen Fötus – ein Mensch in seiner Entwicklung – abzutreiben, ist keine Privatangelegenheit der Eltern: Denn keine halachische Autorität würde das Geschlecht des Kindes als legitimen Grund für einen Schwangerschaftsabbruch akzeptieren.
CHROMOSOMEN
Die Geschlechtswahl vor der Empfängnis ist eher aus praktischen Gründen inakzeptabel, denn eine Selektion des Geschlechts ohne dringenden medizinischen Grund zwingt uns dazu, die Erbträger des weiblichen Geschlechts (Samenzellen mit einem X-Chromosom) von denen des männlichen Geschlechts (Samenzellen mit einem Y-Chromosom) zu trennen.
Und obwohl im jüdischen Religionsgesetz Samenzellen nicht ganz auf eine Stufe mit einem menschlichen Wesen gestellt werden, ist es doch unannehmbar, mit ihnen zu experimentieren, weil bei der Aussortierung der Lebensursprung eines potenziell menschlichen Wesens zerstört wird.
Ähnliche Fragen zur mutwilligen Zerstörung des Lebensursprungs begegnen uns bei der künstlichen Insemination, bei der sie unter strikten Auflagen um der Erfüllung des Gebots der Fortpflanzung willen erlaubt ist. Bei einer gängigen Insemination werden alle Spermien des Mannes eingeführt; nichts geht verloren.
GENE
Bei der Geschlechtsbestimmung hingegen müssen entweder die männlichen oder die weiblichen Gene aussortiert und zerstört werden – dies erachtet die Halacha als unerwünscht. Dies gilt umso mehr für die Geschlechtsselektion, denn im jüdischen Religionsgesetz wird nirgends verlangt, dass Eltern Kinder eines spezifischen Geschlechts zeugen.
Richtig ist, dass die Halacha von Eltern fordert, sowohl einen Jungen als auch ein Mädchen zu zeugen, um das Gebot »Seid fruchtbar und mehret euch« zu erfüllen. Doch Eltern von zehn Söhnen sind keinesfalls verpflichtet, auf Methoden der künstlichen Befruchtung zurückzugreifen, um die Chance auf die Geburt eines Mädchens zu erhöhen.
Eine Geschlechtsselektion aus medizinischen Gründen, um zum Beispiel bestimmte genetische Krankheiten auszuschließen, wurde von Rabbiner Joseph Schalom Elyashiv sel. A., einer führenden israelischen Autorität auf diesem Gebiet, ausdrücklich erlaubt. Auch gesellschaftliche Faktoren spielen in der Halacha eine Rolle bei der elterlichen Geschlechtswahl. Aus Untersuchungen in den USA geht deutlich hervor, dass viele werdende Eltern eine deutliche Präferenz für Jungen haben.
EINZELKINDER
Manche Untersuchungen zeigen, dass sogar zwei Drittel aller amerikanischen Frauen einen Sohn einer Tochter vorziehen. Die Vorliebe für männliche Kinder spielt vor allem eine Rolle bei solchen Paaren, die sich nur ein Kind wünschen.
Würden Eltern in Zukunft das Wunschgeschlecht ihrer Kinder bestimmen dürfen, würde die Anzahl der Jungen in der Bevölkerung erheblich ansteigen. Dies würde in vielerlei Hinsicht zu einem gewaltigen sozialen Problem führen. Ein demografischer Überschuss an Männern würde auch bedeuten, dass viele Männer nicht heiraten könnten. Diese Zukunftsperspektive würde der jüdischen Lebensanschauung zuwiderlaufen.
Der Prophet Ezechiel sagt, dass die Welt erschaffen wurde, um bevölkert zu werden. Ein Missverhältnis zwischen der Anzahl von Männern und Frauen als Folge der elterlichen Geschlechtswahl würde diesem Ziel im Wege stehen.
Der Autor ist Dajan beim Europäischen Beit Din, Oberrabbiner der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD). Dieser Artikel erschien in der Jüdischen Allgemeinen.
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