Vertrauen ist Ehrensache

Solange eine Person nur die Spitze des Eisberges sieht, ist sie nicht imstande, einen Menschen zu 100 Prozent beurteilen zu können.

5 Min.

Andrea Jockisch

gepostet auf 17.03.21

In den vergangenen Wochen habe ich mich intensiv mit dem Thema "Vertrauen" auseinandergesetzt. Vertrauen zu können, ist eine wichtige Basis für alle Beziehungen im persönlichen, privaten oder beruflichen Bereich.

 

Das Sozialverhalten in der Gesellschaft hat sich in den letzten Jahren stark verändert. Für viele Menschen ist Facebook & Co. zu ihrem öffentlichen Tagebuch geworden, in dem sie alles nur Mögliche über ihre Beziehung, ihre Familie und ihre Arbeitsstelle veröffentlichen – wie Klatsch und Tratsch in einer kunterbunten Boulevard-Zeitschrift. Der gesunde Selbstschutz und das Gefühl der Privatsphäre sind in ihnen schleichend abgestumpft. Alles muss preisgegeben werden, nur um aus Wichtigtuerei im Mittelpunkt zu stehen.

 

Seine Familienangelegenheiten und sein Eheleben in Internet-Foren auszulegen, kann zu Disharmonie, unnötigen Stress und Streit zwischen den Partnern führen, wenn sich Außenstehende mit einzumischen haben. Eine Familie sollte Gott als ihren besten Berater immer in der Mitte ihres Zuhauses wissen, um den Hausfrieden nicht zu gefährden. Es ist empfehlenswert, eine erfahrene und vertraute Person aufzusuchen, statt sich Rat bei zig Leuten aus Freundes- und Bekanntenkreis einzuholen. Sich zu viele Meinungen und Ratschläge von mehreren Außenstehenden geben zu lassen, führt lediglich zu Reibereien, noch mehr Meinungsverschiedenheiten und Unentschlossenheit sowie Schwierigkeiten in der Kompromissfindung.

 

Ebenfalls ist es nicht angebracht, in Online-Foren Diskretes aus dem Arbeitsleben offenzulegen, da dies ein Grund einer Kündigung ist. Nach der Arbeit nach Hause kommen und den Familien oder einigen Freunden vom vergangenen Arbeitstag berichten – für viele Arbeitnehmer ist das ein alltäglicher Brauch. Betriebsinterne Informationen unterliegen in einigen Berufsgruppen der Verschwiegenheitspflicht. Wer leichtsinnig plaudert, riskiert damit also einen Rauswurf.

 

Nicht nur bei Facebook & Co. sondern auch in unserem Alltag sollte besonders darauf geachtet werden, dass man seine Privatsphäre bewahrt bzw. dass man Diskretion im Beziehungs-, Familien-, und Arbeitsleben behält. Es ist sehr schwierig und anstrengend, in einer Zeit wie heute gegen den Strom zu schwimmen, um sich nicht zu stark von den eingeschlichenen Gewohnheiten der Gesellschaft beeinflussen zu lassen.

 

Schnelllebiger ist es nicht nur auf den Straßen oder im Job geworden. Neuerdings geht es sogar beim Lesen um Schnelligkeit. Ich kenne eine Autorin, die mir von Speedreading berichtete. Es gibt da eine große Anzahl von Kursen, in denen man lernen kann, schneller zu lesen. Die Werbung gaukelt den Lesern vor, mit Speedreading viel Zeit zu sparen. Von den Kursleitern wird eine Steigerung der Lesegeschwindigkeit um bis zu 400 Prozent versprochen.

Beim Lesen geht es den meisten Menschen schließlich nicht nur um Futter für den Verstand, sondern durch die Vertiefung in den Text auch um Nahrung für die Seele, was selbstverständlich nicht im Schnelldurchlauf möglich ist, da dabei ein hoher Leistungsdruck aufgebaut wird. Alles muss immer schneller gehen – auch das Lesen, das Genießen und das Erleben.

 

Ebenso schnelllebig ist der Vertrauensaufbau geworden. Auffallend ist es bei Personen, die man kaum erst kennengelernt hat. So schnell wie möglich versuchen sie auf irgendeine Weise das Vertrauen zu gewinnen. Was sie sich damit erlauben, sind versuchte Grenzverletzungen. Niemand kann einen Menschen dazu zwingen, sofortiges Vertrauen entgegen zu bringen. In solchen Fällen entstehen innere Blockaden, der Selbstschutz setzt sich ein.

 

Stell dir vor, du wärst zu Gast bei einer Veranstaltung, zu der viele interessante Menschen gekommen sind. Solltest du jetzt die Gelegenheit wahrnehmen, zu möglichst vielen von ihnen Kontakt aufzunehmen und ein paar Worte mit ihnen zu wechseln, um sich dann bald dem nächsten zuzuwenden? Das wäre zwar nicht Schnelllesen, aber Schnellkontakten. Sicher hättest du mehr von dieser Zeit, wenn du dich lediglich auf zwei oder drei Besucher konzentrieren würdest, um wirklich interessante Gespräche zu führen.

Ein anderes anschauliches Beispiel, das zu einem besseren Verständnis führt: Du besuchst ein Museum und schreitest mit schneller Geschwindigkeit durch die Räume, um ja alle Bilder und Ausstellungsstücke zu erleben. Doch von Erleben kann keine Rede sein. Denn wirklich erleben kannst du nur etwas, für das du dir Zeit nimmst.

Gib deinem Gegenüber die Chance, sich frei entfalten zu können, damit eine Basis des Vertrauens entstehen kann. Vertrauen ist ein zartes Pflänzchen, das stets gut behandelt werden will, damit ein Wachsen und Gedeihen geschehen kann. Vertrauen aufzubauen, braucht seine Zeit. Dabei das nötige Verständnis aufzubringen und respektvoll mit den Grenzen des anderen umzugehen, ist von großer Bedeutung.

 

Wird das Vertrauen enttäuscht, weil der andere dich ausnutzt, auslacht, ablehnt, herabwürdigend redet, oder ähnliches, dann lautet mein Tipp, den ich dir mitgebe: Wenn für dich die Möglichkeit besteht, dann teile dieser Person deine Enttäuschung und deine Wünsche mit.

Verhält sich dein Gegenüber dennoch weiterhin in derselben Art und Weise, dann distanziere dich von ihm guten Herzens und sei dir bewusst: Es ist wirklich schade, dass er sich so verhält. Du wirst ihn nicht in seiner Einstellung ändern können, aber du kannst entscheiden, ob du weiterhin eine Verbindung mit ihm eingehen willst und ob es etwas bringt, weiterhin seine ganze Kraft hinein zu investieren. Lohnt es sich wirklich, für diese Person deine Kraft zu investieren?

 

Rabbi David Kraus sagte einmal, dass eine Verbindung zwischen zwei Menschen nur dann entstehen kann, wenn beide Seelen aufeinander abgestimmt sind, sodass das Gespräch zwischen ihnen automatisch von ganz alleine in Gang kommt.

 

Auf solch einer Vertrauensbasis werden innere Blockaden gelöst. Man braucht keine Bedenken mehr haben, dass man ausgelacht, abgelehnt oder herabgewürdigt wird.

 

Über das einfühlsame Gespräch lehrt Rabbi Nachman aus Breslev in seinem Werk Likutey Moharan Band 2, Lektion 1 dieses Gebet mit dem Schöpfer: "Gott des Verständnisses, leite mich, denn manchmal bringen meine Worte mich selbst aus der Fassung. Wenn ich den Menschen um mich herum nicht einfühlsam begegne; wenn ich sie verletze, in Verlegenheit bringe oder beleidige; wenn ich mit einer Gefühllosigkeit rede, die anderen weh tut; wenn ich mich in Selbstgefälligkeit verliere – dann, Gott, hole mich in die Wirklichkeit zurück. Hilf anderen zu verstehen, dass auch ich darunter leide, und gib, dass sie verzeihen."

 

Ständig Urteile zu fällen, ist vergleichbar mit vielen kleinen Gerichtsverhandlungen. Beispielsweise lese ich gerne mal ein spannendes Krimi-Buch. Aber schon alleine diese Information reicht für manche Leute aus, die mich persönlich kaum kennen, um mich in die Schublade einer Kriminellen zu stecken. Es liegt in der Natur einiger Menschen, anhand von Gegebenheiten sich als "laienhaften Menschenkenner" Dinge zusammenzuschmieden, die den Tatsachen nicht entsprechen. Solange eine Person nur die Spitze des Eisberges sieht, ist sie nicht imstande, einen Menschen zu 100 Prozent beurteilen zu können.

 

Diese Gerichtsverhandlungen über die ständigen Beurteilungen sind nicht öffentlich, sondern sie finden im Inneren eines Menschen statt. Bei manchen Menschen ist es wie eine Manie, zu allem eine Meinung haben zu müssen, alles bewerten und beurteilen zu müssen, ständig Punkte verteilen oder Zeugnisse ausstellen zu müssen. Menschen, die solches Verhalten eines Richters aufweisen, stellen sich mit Gott gleich oder sogar noch über Ihn und Sein Walten, weil sie sich selbst für Gott halten, indem sie sich das Recht herausnehmen, sich über die Mitmenschen ein Urteil zu fällen.

Diesbezüglich erwähnt Rabbi Nachman aus Breslev in seinem Werk Likutey Moharan, Band 1, Lektion 51: "Entwickle einen guten Blick. Stets das Gute zu suchen, wird dich zur Wahrheit führen. Auch mit dem guten Blick, hüte dich vor übereiltem Urteil. Dies ist nichts anderes als wenn du etwas aus der Ferne bestrachtest und die falschen Schlüsse ziehst."

 

Ich mag besonders die Menschen, bei denen ich so sein darf, wie ich bin. Menschen, an deren Gewohnheiten und „Regeln“ ich mich nicht anpassen muss, weil ich genau weiß, dass sie mich niemals in meiner Individualität auslachen, ablehnen oder herabwürdigen würden.

 

Wenn wir viel zu vielen Stimmen in uns Raum geben, die uns versuchen, in Verzweiflung und Mutlosigkeit zu ziehen bzw. unser Selbstwertgefühl herabsetzt, und uns intensiv mit negativen Situationen beschäftigen, so wird dies Auswirkungen auf unser Leben haben. Doch wir sind frei, uns zu entscheiden, welchen Stimmen wir unser Gehör geben. Es ist wie bei einem Radio: Wir selbst entscheiden, was wir uns anhören und was nicht. Mache dich in keiner Weise abhängig von der Meinung anderer. Wer in sich ruht, der lässt sich nichts aufdrängen.

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