Raum, Zeit, Licht – Bechukotei

Die Tora lehrt, das Leben immer und überall mit Heiligkeit auszufüllen ...

3 Min.

Rabbiner Julian Chaim Soussan

gepostet auf 06.04.21

Die Tora lehrt, das Leben immer und überall mit Heiligkeit auszufüllen

 

„Der Weltraum: unendliche Weiten. Wir schreiben das Jahr …“
 
Diese Worte aus den Filmen vom Raumschiff „Enterprise“ versetzten jahrelang Millionen von Zuschauern in eine fast feierliche Stimmung. Sie begleiteten Captain Kirk und Co. auf ihren fantastischen Reisen durch Raum und Zeit. Längst ist bekannt, dass die Serie ganz deutliche Anspielungen auf das Judentum enthält. So hat Leonard Nimoy alias Spock in einem Interview erklärt, dass der berühmte „Vulkaniergruß“ (eine vorgestreckte Hand mit gespreiztem Mittel- und Ringfinger) von ihm eingebracht wurde, weil er sich an den Birkat Kohanim, den Priestersegen in der Synagoge, erinnerte.
 
Aber auch die Grundelemente Raum und Zeit, die die Menschheit seit Langem beschäftigt, sind Konzepte, in denen sich die Tora deutlich positioniert: „Am Anfang erschuf Gott die Welt“ – der Beginn von Zeit (Anfang) und Raum (Welt).

Für die griechischen Philosophen der Antike war das so nicht denkbar: Wenn man einen Zeitpunkt Null setzt, was war dann zehn Minuten zuvor? Zeit ist unendlich. Sie misst sich anhand von Bewegung: Wie lange dauert es von A nach B, oder wie lange braucht der Baum zum Wachsen. Dies ist auch der Grund, warum beispielsweise auf einer Fotografie keine Zeit vergeht: Es bewegt sich nichts. Wenn aber Zeit unendlich ist und Bewegung braucht, um gemessen zu werden, dann ist auch die Welt ohne Anfang, argumentierten die alten Griechen.

Die Tora hält dagegen, dass vor der Zeit nur Gott existierte. Haschem, dessen hebräischer Name, bestehend aus den Buchstaben Jud, Hej, Waw und Hej, eine einzigartige Variation des hebräischen Wortes „Sein“ darstellt. Gott gibt sich Mosche am Dornbusch zu erkennen: „Äheje ascher Äheje“ – „Ich bin der, der ich bin“, oder „Ich werde der sein, der ich sein werde“. Göttliche Existenz drückt sich für Menschen als Variationen des Wortes „Sein“ in verschiedenen Zeitformen aus. Interessant, dass ein weiterer Name für Gott „Hamakom“ ist: der Ort.

Gott ist vor Anbeginn der Zeit und des Raumes genau das: „Memale Almin“ – der, „der die Welten ausfüllt“. Gott ist außerhalb von Zeit und Raum, Er füllt unendliche Zeit aus und unendlichen Raum, Er ist nicht messbar.

Von Anfang an aber teilt Haschem für die Menschen die Zeit ein. Die Schöpfungswoche mündet im Schabbat, dem siebten Tag, der zu heiligen ist, indem wir nicht arbeiten. Für viele schwierig nachzuvollziehen ist hierbei das Trageverbot. Während auf privatem Gelände sogar schwere Gegenstände geschleppt werden dürfen, ist es auf öffentlichem Gebiet verboten, auch nur ein Taschentuch zu tragen.

Man kann dieses Verbot aber aufheben, indem man einen Eruw schafft. Wenn beispielsweise zwei Nachbarn ihre Grundstücke für einen Schabbat zum gemeinsamen Gebiet erklären, können sie Gegenstände, wie Speisen, Getränke und Geschenke für die Kinder, hin und hertragen. Dieses Konzept lässt sich sogar auf die gesamte Fläche einer Stadt übertragen, solange sie komplett umzäunt ist. Auch in Deutschland gab es vor dem Krieg Städte mit Eruw. So seltsam das Konzept auf den ersten Blick erscheinen mag, es beinhaltet eine tiefgründige Besonderheit: Heiligkeit, ausdehnbar in Raum und Zeit. In unserem Wochenabschnitt wird die Heiligkeit sogar für ein ganzes Jahr auf ganz Israel ausgedehnt: das siebte, das Brachjahr, genannt Schmitta.

Heiligkeit ist für den Menschen zunächst etwas räumlich und zeitlich Begrenztes: eine Mizwa, die an einem Ort und zu einem Zeitpunkt erfüllt wird, beispielsweise das Gebet in der Synagoge in eben dem Moment, da es gesprochen wird. Erweitert um den Faktor Zeit, kann ein ganzer Tag heilig werden, der Schabbat. Und dieser heilige Tag wird um den Faktor Raum auf eine ganze Stadt ausgedehnt. Nach der Zerstörung des Tempels als dem heiligen Ort schlechthin ist dies ein ungemein tröstlicher Gedanke: Man kann ganz Berlin, ganz Frankfurt oder Düsseldorf an einem Tag in jeder Woche zu einem geheiligten Raum werden lassen.

Hiroshi Sugimoto, ein japanischer Künstler, hat einmal eine Fotoserie von Kinoleinwänden gemacht. Durch eine spezielle Aufnahmetechnik gelang es ihm, eine Leinwand zu fotografieren, während ein ganzer Kinofilm lief. Was auf den Fotos zu sehen ist? Licht, strahlend hell. Denn während der Film lief, wurde jeder Bereich der Leinwand irgendwann einmal mit Licht erhellt, dies hat sich auf der Fotografie als „Belichtung“ erhalten.

Genauso sollte unser Leben im Idealfall sein: Die Summe unserer Zeit in jedem Aspekt möglichen Raumes mit Heiligkeit, mit Licht ausgefüllt. Die Tora lehrt, dass wir uns immer und überall zum Heiligen hin entwickeln sollen, damit diese Heiligkeit dauerhaft in Raum und Zeit wahr wird.

 

 

Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Frankfurt und Beiratsmitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD).

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