Die Gesetze von der üblen Nachrede (Laschon hara) sind schon sehr kompliziert. Es gibt bei ihnen keine reichhaltige Überlieferung halachischer Entscheidungen wie zu anderen Themen, und ohne den "Chafez Chajim" (Rabbiner Israel Me'ir Hakohen aus Radin, lebte vor etwa 100 Jahren, so genannt nach seinem Kompendium über die Gesetze von Laschon hara), der sich ihrer angenommen hatte, wären sie höchstwahrscheinlich im Abgrund des Vergessens versunken ohne einen ernsthaften Versuch, sie im täglichen Leben anzuwenden. Im Folgenden wollen wir versuchen, uns mit einigen Fragen unseres Wochenabschnittes auseinander zu setzen, die sich mit den Worten der Prophetin Miriam über ihren Bruder Moscheh beschäftigen.
Die Dinge, die Miriam Aharon mitteilte, enthielten keinerlei Neuigkeiten. Beide wussten, dass Moscheh sich von seiner Frau abgesondert hatte. Das einzig Neue bestand in der negativen Auslegung der Dinge. Miriam behauptete, Moscheh sei nicht höher einzustufen als andere Propheten, und darum bestünde keine Rechtfertigung für die Trennung von seiner Frau. Damit verurteilte sie ihn doppelt: Erstens die Behauptung, dass er nicht so groß sei wie er selbst und das Volk glaubten, und zweitens die Beschuldigung des Fehlverhaltens gegenüber seiner Ehefrau, der er sich vorenthielt. – So entschied der Chafetz Chajim: "Das Verbot des Weitererzählens gilt auch, wenn man gar nichts Neues offenbart, wenn auch der Andere wusste, dass X so und so gesagt hatte… oder so und so gehandelt hatte… nur dass der Andere bisher noch nicht über X nachgedacht hatte, der dabei etwas Böses getan hatte… – selbst in so einem Fall besteht das Verbot des Weitererzählens, weil durch seine Rede die Sache eine neue Wendung erhielt…" (Gesetze des Weitererzählens, 4,1).
Daraus lernen wir, dass es keine Erlaubnis dafür gibt, Tatsachen negativ auszulegen, auch wenn jene Tatsachen allgemein bekannt sind.
Ein weiteres Thema ist die üble Nachrede, die zu einem nützlichen Zweck geäußert wird. Bekanntlich ist üble Nachrede erlaubt, wenn der Redner damit einen nützlichen Zweck verfolgt (dieses Prinzip beruht auf der Erlaubnis, jemanden vor ein Rabbinergericht zu bringen und eine Zeugenaussage abzulegen). Wer innerhalb dieser Erlaubnis operieren will, muss seine Worte vorher einer Prüfung unterziehen: Glaubwürdigkeit (Korrektheit der Information, genau bestimmte Tatsachen, richtige Interpretation der Sachlage), reine Absicht (des Redners zu einem nützlichen Zweck), Erreichen des Zweckes (realistische Chance, den Zweck zu erreichen, Fehlen von realistischen Alternativen, Vermeidung ungerechtfertigter Nachteile für den Betroffenen). Hier stellt sich die Frage: Wie sieht es aus, wenn über den erzielbaren Nutzen Meinungsverschiedenheiten bestehen? Der Redner ist davon überzeugt, seine Kritik sei gerechtfertigt und werde die gewünschte Wirkung zeitigen, er ist sich jedoch dessen bewusst, dass andere seiner Beurteilung nicht zustimmen und eher meinen, was er als zu verhindernden Missstand sieht, sei in Wirklichkeit überhaupt kein Missstand? Zum Beispiel: Wie lautet das Gesetz für jemanden, der die Regierung wegen ihrer Politik aufs Schärfste kritisiert, während ein anderes politisches Lager die Regierungspolitik einhellig befürwortet? Oder wer eine öffentliche Führungspersönlichkeit wegen ihres (seiner Ansicht nach, natürlich) dubiosen Charakters bekämpft, während ein großer Teil der Öffentlichkeit von der Eignung dieser Person für ihre Aufgabe überzeugt ist?
Ein Beispiel dafür bietet Miriam. So heißt es im Midrasch Sifri (und Nachmanides entschied entprechend das Gesetz): "Und was für Miriam gilt, die gar nichts Nachteiliges über ihren Bruder sagen wollte, nur Lob, und nicht die Fortpflanzung mindern wollte, sondern mehren… und bestraft wurde – doch erst recht jemand, der etwas Nachteiliges über seinen Nächsten reden will und kein Lob, und ihn von der Fortpflanzung abhalten will und nicht mehren".
Der Midrasch erklärt Miriams Absicht als eine auf Nutzen ausgerichtete. Sie hatte das Wohl ihrer Schwägerin Zippora im Sinn, die wegen Moschehs Enthaltsamkeit allein gelassen war. Miriam war von ihrer Verantwortung überzeugt, ihren Bruder auf seinen Irrtum aufmerksam machen zu müssen; sie nahm allerdings keine Rücksicht darauf, dass Moscheh eine andere Ansicht vertrat, und sie konnte seinen vermeintlichen Irrtum auch nicht beweisen (und sicher wusste sie nichts davon, dass G~tt ihm zugestimmt hatte). Hieraus entnehmen wir die Notwendigkeit des objektiven Beweises der Nützlichkeit der Kritik. Allerdings lehrt uns dieser Midrasch auch, nicht vorschnell auf ein Verbot der Nachrede in diesem Fall zu schließen, wie es dort weiter heißt: "Und Miriam und Aharon redeten gegen Moscheh – an allen Orten bedeutet Rede (dibur) eine harte Sprache…". Demnach galt die Kritik an Miriam gar nicht dem Inhalt ihrer Rede, der vielleicht erlaubt war, im Sinne von "übler Nachrede zu einem nützlichen Zweck", vielmehr bestand das Problem in der Art und Weise der Rede, nämlich in Form "harter Sprache", d.h. in einem aggressiven (und gefühlsgeladenen) Stil, viel mehr als zum Erzielen des Nutzens nötig war.
Eine ähnliche Deutung ergibt sich aus dem Midrasch Jelamdenu (zitiert im Jalkut Schimoni): "Weil sie ihrem Munde Erlaubnis gaben, über Moscheh zu reden – schwieg ich ihnen nicht… Als Miriam dies hörte, ging sie zu Aharon und erzählte ihm die Sache. Sie begannen darüber zu sitzen und zu beratschlagen: Redet der Ewige etwa nur zu Moscheh?!". Auch hier scheint die Problematik der Dinge nicht vom Inhalt zu rühren (da er wie gesagt einem nützlichen Zweck diente), sondern vom Ton der Übertreibung, der mit anklang, indem sie "ihrem Munde Erlaubnis gaben", ungehindert zu reden, und ausführlich "darüber zu sitzen und zu beratschlagen"; das deutete auf zusätzliche, verdeckte Ziele hin, über die erklärte nützliche Absicht hinaus. Wäre aber die reine Bestrebung nach Nützlichkeit durch knappe und sachbezogene Sprache eingehalten worden, wäre kein Verbot übertreten worden.
Meine Absicht besteht nicht darin, in dieser prinzipiellen Frage hier die Halacha zu entscheiden. "Nicht ein jeder, der sich den Ruf [eines besonders Frommen] beilegen will, darf ihn sich beilegen" (Mischna Brachot 2,8). Die Diskussion und das Abwägen der Gesetze von der üblen Nachrede an sich besitzen jedoch schon die Kraft, das Bewusstsein und die Vorsicht vor jeder ungerechtfertigten Verletzung des guten Namens des Nächsten zu erhöhen (auch wenn es sich um eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens handelt…).
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6/15/2011
Klatsch und Tratsch.. Wertvolle Erkenntnisse in diesem Artikel… Danke! Die Gesetze von der üblen Nachrede(Laschon hara) beinhalten bei der Verinnerlichung ihrer Bedeutung doch auch erschwerend hinzu, dass es ja sogar schädlich und somit nicht heilsam ist, über sich selbst schlecht zu reden und zu denken, denn das ist nicht gut sondern schlecht für unsere Mitmenschen, die ja beeinflußt werden von unserem schlechtem Reden und Denken über uns selbst.Schwer schwer.
6/15/2011
Wertvolle Erkenntnisse in diesem Artikel… Danke! Die Gesetze von der üblen Nachrede(Laschon hara) beinhalten bei der Verinnerlichung ihrer Bedeutung doch auch erschwerend hinzu, dass es ja sogar schädlich und somit nicht heilsam ist, über sich selbst schlecht zu reden und zu denken, denn das ist nicht gut sondern schlecht für unsere Mitmenschen, die ja beeinflußt werden von unserem schlechtem Reden und Denken über uns selbst.Schwer schwer.