Verlust oder Gewinn – Ki Teze

Warum die Mizwa, einen verlorenen Gegenstand zurückzugeben, mit zahlreichen anderen Konzepten der Tora verbunden ist.

4 Min.

Rabbiner Steven Langnas

gepostet auf 05.04.21

Haschevat AVEDA

 
Warum die Mizwa, einen verlorenen Gegenstand zurückzugeben, mit zahlreichen anderen Konzepten der Tora verbunden ist.
 
Welches von folgenden Themen gehört nicht dazu? Es ist diese Frage, die wir oft stellen, wenn wir Kinder und Erwachsene motivieren wollen, den Unterschied zwischen verschiedenen Sachen oder Konzepten zu lernen. Wenn wir diese Lernmethode auf die folgenden Konzepte anwenden würden – welches der unten genannten Themen gehört nicht dazu?
 
  1. Die Auferstehung der Toten,
  2. Exil,
  3. Die Heiligung des Göttlichen Namens,
  4. Das Gebot, einen verlorenen Gegenstand seinem Eigentümer zurückzuerstatten.
 
Wenn Sie Nummer vier – die Mizwa, einen verlorenen Gegenstand seinem Eigentümer zurückzuerstatten – angekreuzt haben (das hoffe ich), dann lesen Sie bitte weiter. Wenn Sie ein anderes Konzept angekreuzt haben, dann lesen Sie trotzdem weiter.
 
Die Auferstehung der Toten (Techijas Hametim), Exil (Golus) und Heiligung des Göttlichen Namens (Kiddusch Haschem) sind esoterische Begriffe, die im Judentum eine tief religiöse und philosophische Bedeutung haben. Dagegen scheint das Gebot von Haschevat Aveda, einen verlorenen Gegenstand zurückzuerstatten, eine grundsätzliche, einfache Mizwa zu sein, die der Anstand in unserer Gesellschaft fordert. Aber wenn wir die Mizwa von Haschevat Aveda näher betrachten, dann finden wir, dass doch eine Verbindung zu den anderen, oben erwähnten Konzepten besteht.
 
 
SCHICHTEN
 
Eine der Schönheiten im Judentum ist, dass die Worte und Konzepte in der Tora verschiedene Bedeutungsschichten haben können. Wir haben den oberflächlichen Pschat, die einfache Bedeutung eines Wortes. Und dann beginnt man, Schicht für Schicht abzutragen, um tiefere Erklärungen und Zusammenhänge zu finden.
 
Der Pschat von Haschevat Aveda ist klar. Es ist eine der Vorschriften im jüdischen Gesetzessystem, dessen Zweck es ist, zu Erbarmen, Mitleid und gegenseitiger Rücksichtnahme zu ermutigen, trotz unseres natürlichen Hangs zu Egoismus. Diese Mizwa erscheint nicht nur in unserer Parascha, sondern auch im 2. Buch Moses 23,4. Dort wird betont: »Wenn du von einem Feind einen Ochsen oder Esel triffst, der sich verirrt hat, so sollst du ihm denselben zurückbringen.« Die Mizwa Haschevat Aveda hilft uns, über unseren eigenen Schatten zu springen. Das Zurückbringen eines verlorenen Gegenstandes vermindert Gefühle von Hass zwischen zwei Feinden und vermehrt die Entwicklung des guten Willens auf beiden Seiten.
 
Aber im übertragenen Sinn sieht Rabenu Bachja, einer unserer Tora-Gelehrten, einen metaphysischen Aspekt in dieser Mizwa. Wenn ein Mensch stirbt, dann verliert er seine Seele. Die Seele kehrt zu ihrem Schöpfer zurück und Gott erwirbt sie von Neuem. »Ebenso wie dieser Mensch seine Seele zurückerhalten möchte, wenn die Toten auferstehen, sollte sich jeder Mensch bei Lebzeiten eifrig darum bemühen, materielle Verluste ihrem rechtmäßigen Eigentümer zurückzugeben.« Jetzt sehen wir den Zusammenhang zwischen Haschevat Aveda und Techijas Hametim. Ebenso besteht eine Verbindung zum Exil.
 
 
SCHAFHIRTE
 
Bei den Beispielen, die die Tora hier im Zusammenhang mit der Mizwa von Haschevat Aveda bringt, handelt es sich oft um Tiere. Dies als Erinnerung daran, welch große Rolle die Tiere im landwirtschaftlichen Leben unserer Vorfahren spielten. Der Talmud bemerkt aber hierzu, dass die Erwähnung von verlorenen Sachen auch im allegorischen Sinn gemeint ist. Überall in der jüdischen Literatur finden wir, dass unsere Beziehung zu Haschem als Beziehung eines Schafhirten zu seinen Schafen umschrieben wird. Der Maharal, Rabbi Löw aus Prag (vgl. Seite 7), schreibt in seiner Erklärung zu dieser Talmudstelle, dass die verlorenen Schafe, die hier im Zusammenhang mit der Mizwa von Haschevat Aveda erwähnt werden, wir sind, das jüdische Volk. Und wir sollen hier getröstet werden. Denn obwohl wir uns in der Golus »verloren« fühlen, hat uns dennoch unser »Hirte« (Gott) nicht verlassen. Er wird uns mit der Zeit finden, uns zu sich nehmen und erlösen.
 
Und nun kommen wir zur Verbindung mit Kiddusch Haschem, der Heiligung des Göttlichen Namens. Drei Mal steht in den vier Versen, in denen die Mizwa von Haschevat Aveda beschrieben wird, das Wort »zurückbringen«. In Kapitel 22, Vers 1, lernen wir, »dass verlorene Tiere, die jemandem, der in der Nähe wohnt, gehören, zurückgebracht werden sollen«. Vers 2 spricht davon, »dass wir etwas zurückbringen sollen, das jemandem gehört, der weit weg wohnt« und Vers 3 behandelt das Zurückbringen anderer Gegenstände.
 
Diese dreimalige Erwähnung des Wortes »zurückbringen« veranschaulicht den dreistufigen Prozess, durch den jeder Jude seinen jüdischen Lebensstil aufbaut. Wenn wir zum ersten Mal eine Mizwa ausführen, tun wir dies, um den Befehl in der Tora zu erfüllen. Beim zweiten Mal ist diese Mizwa schon ein Teil von uns, und nach dem dritten Mal wird sie zu einem nicht mehr wegzudenkenden Teil unseres Wesens. »Lo suchal lehisalem« – dann wird es unmöglich für uns, uns zu verstecken, das heißt, wir müssen die Mizwa einfach erfüllen.
 
 
HINGABE
 
Der Talmud Jeruschalmi (Baba Mezia 2,5) erzählt uns folgende Geschichte über Rabbi Schmuel, der einen von der Königin verlorenen Diamanten fand. Die Königin ließ verlauten, dass, wer ihren verlorenen Diamanten binnen 30 Tagen zurückbringt, gut belohnt werde. Dass aber derjenige, der erst nach 30 Tagen den Diamanten zurückbringt, hingerichtet werde. Rabbi Schmuel fand den Diamanten, brachte ihn der Königin aber erst nach Ablauf von 30 Tagen zurück. Da fragte sie ihn, ob er ihr Dekret kenne. »Ja«, erwiderte Rabbi Schmuel. Doch habe er absichtlich so lange mit der Rückgabe gewartet. Und warum? Hätte er ihn früher zurückgebracht, dann würde man sagen, er tue dies aus Ehrfurcht vor der Königin. Doch er bringe ihn zurück, da Haschem ihm die Mizwa von Haschevat Aveda befohlen habe. Die Königin war von seinem Mut und seiner Ehrlichkeit dermaßen beeindruckt, dass sie ihn belohnte und nicht hinrichten ließ. Und sie lobte den Gott Israel, der eine solche Hingabe hervorrufen kann.
 
Diese Geschichte über die Einhaltung der Mizwa von Haschevat Aveda wurde zu einem klassischen Fall von Kiddusch Haschem, der Heiligung des Göttlichen Namens. Solange wir bereit sind, uns in die Tora zu vertiefen, um verschiedene Erklärungen und aktuelle Bezüge für unser Leben zu finden, solange wird sie uns und werden wir der Tora nie verloren gehen.
 
 
Der Autor ist Rabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde München und  Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland. Klicken Sie daher bitte auch hier, um die Webseite der ORD zu besuchen.

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