Ein heutiges Licht

Kabbala, eine neue Bewusstseinswelle über die Jüdische Spiritualität - Fragen Sie Madonna, Demi Moore, Mick Jagger und Fergie, die Duchess of York.

19 Min.

Micha Odenheimer

gepostet auf 17.03.21

Trotz der machtvollen Verbindung von Mystik mit sozialen Ideen in der Person des Rabbi Yehuda Ashlag, der vor 50 Jahren verstarb und kaum auf der Bildfläche unseres Massenbewusstseins (od. kollektiven Gedächtnis) wahrgenommen wurde, spülte erst vor einigen Jahren eine neue Bewusstseinswelle über die Jüdische Spiritualität – Fragen Sie Madonna, Demi Moore, Mick Jagger und Fergie,  die Duchess of York.

Shlomo Shoham, Autor und Kriminologe, der später Preise für seine Forschung erhielt, machte sich eines Tages, Anfang der 50er Jahre auf, um den Kabbalisten, Rabbi Yehuda Ashlag aufzusuchen. „Professor Gershom Scholem war es, der mich auf ihn hinwies“, erzählte mir Shoham.“ Scholem, war mit der Art Kabbalah, die Ashlag vertrat, nicht einverstanden, aber er meinte, ich würde ihn wohl interessant finden, ein Kuriosum.“ Zu der Zeit war Ashlag dabei, „HaSulam“ (wörtlich die Leiter), seine hebräische Übersetzung und den Kommentar zum „Sohar“ – das grundlegende uralte Werk der jüdischen Mystik – zu drucken. Jedesmal, wenn es ihm gelang, Geld aufzubringen, druckte er Teile seines „HaSulam“.
 
„Ich fand ihn in einer verfallenen Bretterbude vor, die eine alte Druckerpresse beherbergte. Einen Setzer konnte er sich nicht leisten und machte deshalb alles allein, Buchstabe für Buchstabe,  stundenlang gebeugt über die Druckerpresse trotz seines vorangeschrittenen Alters – er war Ende sechzig. Er war offensichtlich ein Tzaddik (rechtschaffender Mann), bescheiden mit einem strahlenden Gesicht. Er war jedoch eine absolute Randfigur und lebte in Armut. Später erfuhr ich, dass er so viele Stunden beim Schriftsetzen verbrachte, dass das Blei, welches dabei verwendet wird, seine Gesundheit ruinierte.
 
Einige Jahre später, am  Abend von Yom Kippur, 1954, starb Ashlag, knapp zwei Jahre nach der Veröffentlichung seines imposanten Kommentars zum Sohar, den „HaSulam“. Die Überlieferung sagt, dass der Sohar Rabbi Shimon Bar Yochai, einem Mischnaischen Weisen, zugesprochen wird, im Gegensatz zu modernen Gelehrten, die glauben, dass er im 13. Jahrhundert zusammengestellt oder geschrieben wurde.
 
In allen Schriften gilt  er als das grundlegende Werk der jüdischen Mystik, ein  anerkanntes Opus, seine Akzeptanz als „Heilige Schrift“ ist fast so verbreitet wie die des Talmuds oder der Torah selbst. Frei gegliedert als Kommentar zur Bibel, zeichnet der „Sohar“ die Lehren von Rabbi Shimon Bar Yochai und seinen Schülern auf, die im zweiten Jahrhundert durch Palästina wanderten und dabei die tiefsten Geheimnisse der Schöpfung, Wiedergeburt und erlösende Wege des göttlichen Lichtes enthüllten.

Im eigentümlichen Aramäisch geschrieben, ist der Sohar poetisch, rätselhaft, undurchsichtig und manchmal träumerisch, und die Meditation über ihn, schuf nach seiner Veröffentlichung die Basis der Kabbalah, miteingeschlossen die komplizierten und maßgebenden Lehren von Rabbi Isaac Luria, einem Meister Kabbalisten aus dem 16. Jahrhundert aus Zfad (Safad) .
 
Dem Stil seiner früheren Bücher ähnlich – den Kommentaren zur Lurianischen Kabbalah – drückt Ashlags „HaSulam“ die Interpretation der jüdischen Mystik präzise, ursprünglich und systematisch aus.  Ashlags Version der Kabbalah verspricht eine individuelle Veränderung und sogar persönliche Erlösung für diejenigen, die sich des Studiums und der Anwendung der Kabbalah widmen.

Das Werk  hat den Titel „HaSulam“, weil es Schritt für Schritt einen Übergang zwischen Himmel und Erde bereitstellt, ähnlich wie die Leiter in Jakobs biblischem Traum. Ashlag war davon überzeugt, dass sein Kommentar mit der Enthüllung der Geheimnisse des Sohars, es Gläubigen ermöglichen würde, schrittweise Stufen spiritueller Erleuchtung zu erlangen,  eingeschlossen der Veränderung des physischen Körpers von fester Materie in ein Empfangsgefäß für göttliches Licht für ein paar Ausgewählte.
 
Tod in Obskurität
 
Ashlag selbst hatte sich jedoch leidenschaftlicher einer weitreichenden gesellschaftlichen Vision verschrieben, einer Vision, die aus seinem Verständnis der kabbalistischen Tradition hervorging.

Er verstand die Menschheit als eine ganze Einheit, die sowohl physisch als auch geistig von einander abhängig ist, und er war davon überzeugt, dass nur ein wirtschaftliches System, welches dieses erkannt hat, die Menschheit befreien könnte, und eine Ära gemeinsamer Erleuchtung auslösen könnte. In seinem Tagebuch vermerkte Israels erster Ministerpräsident David Ben Gurion, dass während er bei seinen zahlreichen Treffen mit Ashlag mit ihm über Kabbalah sprechen wollte, dieser jedoch lieber über Sozialismus und Kommunismus diskutieren wollte.
 
Trotz seiner machtvollen Vereinigung von Mystik und sozialen Ideen, die sein Werk darstellte, blieb Ashlag nur eine nebensächliche Figur, und seine Persönlichkeit und seine Ideen wurden kaum im kollektiven Bewusstsein der Juden registriert. Er war eben zu revolutionär für die ultraorthodoxe Welt, der er immer noch angehörte. Seine Ideen waren zu abstrakt und universell für die religiös-nationalistische Welt, die sowieso nur mit Ashlags Freund Rabbi Abraham Isaac Kook beschäftigt war. Ashlag wurde auch weitläufig von den akademischen Gelehrten, die unter dem Einfluss von Gershom Scholem standen, abgelehnt.
 
Scholem, bis zu seinem Tod in 1982 ein vorherrschender akademischer Gelehrter der Kabbalah, glaubte, dass Ashlags Vorhaben ein irreführender Versuch war, Lurias Methode mit dem Sohar zu vereinigen. Scholem war ein Gelehrter, für den der Schlüssel zur Auslegung von  Gedanken im historischen Zusammenhang liegt. Er glaubte zum Beispiel, dass Lurias kabbalistisches Denken die Folge des jüdischen Exils aus Spanien war. Als zionistischer Denker war Scholem von der Macht der Geschichte, neue spirituelle Kräfte auszulösen, berauscht. Darum opponierte er dem Versuch Ashlags, Luria und den „Sohar“ auf einen Nenner zu bringen, obwohl beide aus verschiedenen geschichtlichen Epochen stammten. Scholem verstand offensichtlich nicht die radikale eigenwillige Interpretation von Tradition und den Erfolg des „HaSulam“ Kommentars, der die poetische Art des „Sohars“ und die Lurianischen Vorgänge als Unterstützung seiner neuen Interpretation der Kabbalah auf ein Gleis brachte.

Ashlags Kabbalah überlebte dank des Einsatzes seiner beiden Söhne, Rabbi Baruch Shalom Ashlag, Rabbi Shlomo Benyamin Ashlag und seines Schülers und Schwiegersohnes Rabbi Yehuda Brandwein, der einige Jahre als Haupt-Rabbi für die Histradut-Arbeiter-Vereinigung fungierte. Alle drei widmeten ihr Leben der Verbreitung seiner Methode und gründeten Schulen, wo Ashlags Kabbalah unterrichtet wurde. Sie veröffentlichten und verbreiteten seine Werke. Alle drei Schüler lebten und starben wie Ihr Meister in Vergessenheit. Sie bettelten um Geld, um die Ashlag Bücher zu veröffentlichen, und unterrichteten in den frühen Morgenstunden kleine Gruppen von treuen Studenten.
 
Geographie der Spiritualität
 
Und dann änderte sich etwas. Im Laufe der Jahre wurde die Ashlag Kabbalah zu einer Kraft, die auf der Karte der jetzigen jüdischen Spiritualität schwer zu ignorieren war. Mir wurde die Reichweite Ashlags neu gefundener Bedeutung erst im September diesen Jahres auf dem Neu-Delhi Flughafen bewusst, als ich in der Hindustani Times einen Artikel las, dass Weltstar Madonna dem Grab von Ashlag in Jerusalem  während ihres Besuches in Israel einen Besuch abgestattet hat. Madonna ist eine Schülerin von Rabbi Philip Berg, dem Gründer des Kabbalah Zentrums, das zahlreiche Filialen in Israel, Europa, den Vereinigten Staaten und Südamerika hat. Berg, der ein Schüler Rabbi Yehuda Brandweins war, führte seine spirituelle Abstammung auf Ashlag zurück, obwohl seine Gegner sagen, dass er vom Weg des Meisters abgewichen ist.
 
Sie haben nicht ganz unrecht: Ashlag war sehr dagegen, aus dem Unterricht der Kabbalah Geld zu machen, und Bergs Zentren, die wie ein modernes Konsortium geleitet werden, verhalfen ihm zu einem Riesenvermögen. Ebenfalls war Ashlag stark gegen die populäre Verbindung von Kabbalah mit Magie. Obwohl von Anfang an in der jüdischen Mystik ein Hauch von Magie enthalten war – schon im Talmud kann man von Rabbis lesen, die göttliche Namen benutzten, um lebende Wesen zu schaffen. Die Fähigkeit der Kabbalisten, sich in die Luft zu erheben, augenblicklich lange Distanzen zu überwinden und die Fähigkeit des Gedankenlesens sind allgemein in der jüdischen Legende bekannt. Viele Kabbalisten haben ebenfalls die Magie als Missbrauch der heiligen Kraft für persönlichen Gewinn verdammt. 

Ashlag hielt die Besessenheit auf Wunder für eine Ablenkung und Verzögerung der wirklichen Herausforderung: der zermürbende und andauernde Kraftaufwand, der nötig ist, um spirituelle Metamorphose zu erreichen. Beständig lehnte er Wunderheilungen, Segnungen oder Traumdeutungen ab, die für andere Kabbalisten tägliche Routine waren.

Im Gegensatz zu ihm verkauft Bergs Zentrum „Kabbalah Wasser“, Plakate mit göttlichen Namen und rote geknotete Wollschnürchen, die als Armbänder getragen Glück bringen und das Böse abwenden sollen. Angeboten werden auch Kurse wie „Kabbalah und Erfolg“, die das Ansehen der Kabbalah in ihrem Dienst zur Erreichung materiellen Wohlstands betonen.
 
Vor kurzem scheint Berg eine andere Grenze überschritten und sich weiterhin von Ashlag getrennt zu haben, indem er nun den „Sohar“ unter Einbeziehen von christlichen Symbolen als den „Heiligen Gral“ bezeichnet. Diese Rhetorik schmiegt sich auf ungemütliche Weise an den klassischen Antisemitismus an. In seiner Einführung zur englischen Übersetzung des „Sohars“ und dem Kommentar vom „HaSulam“, der von seinem Sohn Rabbi Michael Berg verfasst wurde, erklärt Berg der Ältere, die Unterdrückung des „Sohars“ durch die Juden als Hauptgrund für weltweites Leiden und Antisemitismus:
 
„Diese Juden waren und sind der schwelende Grund für Antisemitismus.

Wenn der Heilige Gral verbreitet werden würde, wären Mittelsleute nicht mehr nötig. Gemeinsam mit der Menschheit würden die Juden dann das heiß ersehnte Ziel, die Verbannung des Chaos, erreichen. Der hauptsächliche Faktor, der zum Antisemitismus beiträgt, liegt ungeachtet der Autoritäten bei der Verleugnung der Früchte des Heiligen Grals seitens der Juden. Obwohl diese Verleugnung  nur von einigen wenigen Führern stammt, wird die Schuld am weltlichen Chaos allen Juden, einschließlich den unschuldigen, zugeschoben“.
 
Radikale gesellschaftliche Vision

Trotz seines seltsamen Abweichens von Ashlags Ideen, widmet Berg sich zweifellos unermüdlich der Verbreitung kabbalistischer Texte und Ideen.

Hinzu kommt noch seine erlauchte Gesellschaft, die aus Berühmtheiten wie Madonna, Demi Moore, Mick Jagger und seit neuestem auch Sarah Ferguson, Duchess of York besteht, und welche Ashlags Berühmtheit zu einem noch nie dagewesenem Niveau erhebt. Doch ist dieses Kabbalahzentrum keineswegs das einzige Mittel, wodurch sich Ashlags Kabbalah verbreitet.

Schüler, die Ashlag studieren, treffen sich regelmäßig  in Dutzenden von Städten in Israel. In Petah Tikva wird ein unscheinbares Gebäude im Industriegebiet von Tel Aviv um 3 Uhr morgens lebendig, wenn sich dort 150 fest engagierte Studenten zu ihrem täglichen Kabbalahunterricht treffen. Dieser wird von Rabbi Michael Laitman, einem russischen Einwanderer und engem Schüler von Rabbi Baruch Ashlag geleitet. Das Gebäude ist das Hauptquartier von Bnei Baruch, gegründet von Professor Michael Laitman. Das schäbige Äußere des Gebäudes öffnet sich zu einer großartigen Studienhalle, die mit Hunderten von Ashlags Büchern und einem hochmodernen Broadcasting-System ausgestattet ist, mit dessen Hilfe Kabbahalunterricht einer nicht nur jüdischen, sondern internationalen Zuschauermenge in hebräisch, russisch, englisch, deutsch und italienisch über das Internet zugänglich gemacht wird. Obwohl genaue Statistiken nicht erhältlich sind, sagt Bnei Baruch, dass monatlich circa mehrere hunderttausend Besucher weltweit ihre umfangreiche Webseite besuchen.
 
Vor ungefähr 15 Jahren gründeten Jerusalemer Studenten, Schüler von Mordechai Sheinberger, einem Schüler von Brandwein, eine Ashlagkommune „Or Ganuz“ in der Nähe vom Berg Meron, wo sie mit dem Studium der Kabbalah zusammen den Aufwand aufbringen, die radikale soziale Vision ihres Meisters zu verwirklichen. In den letzten Jahren hat Or Ganuz weitgehend weltliches Publikum in unterschiedlichen Gegenden wie Carmel und Galiläa mit Kabbalahlehrern versorgt. In Bnei Brak gründete Ashlags Enkel Rabbi Akiva Orzel und Schüler von Yehezkel Ashlags Vater, Rabbi Shlomo Binyamin, eine Studierschule. In der ultraorthodoxen Gemeinschaft von Telshe Stone und in der Altstadt von Jerusalem gibt es ebenfalls aktive und wachsende Ashlag Zentren. 
 
Plötzlich wurde die akademische Welt aufmerksam. Die Ben Gurion Universität in Negev hielt zum ersten Mal zum 50. Todestag von Ashlag eine akademische Feier zu seinen Ehren am 26. Dezember 2004 ab. Diese Konferenz brachte akademische Spitzenköpfe aus der Welt der Kabbalah zusammen, wie z.B. Prof. Moshe Idel von der Hebräischen Universität zusammen mit Ashlag Schülern, unter ihnen Professor Michael Laitman und Mitgliedern der Ashlagfamilie.

Die erste Doktorarbeit von Tony Lavie über Ashlags Gedankentum wurde 2003 von der Bar-Ilan Universität akzeptiert. (Lavie veröffentlichte bereits ein Buch mit Gesprächen mit dem verstorbenen Prof. Yeshayahu Leibowitz) und ein weiteres Buch mit Gesprächen zwischen Lavie und Rabbi Orzel ist dieses Jahr noch geplant.  An mehreren Doktorarbeiten wird gerade gearbeitet.
 
Prof. Avi Elkayam von Bar-Ilan, welche diese Konferenz gefördert hat, betrachtet das Aufwachen der akademischen Welt über die Wichtigkeit Ashlags als eine Korrektur eines geschichtlichen Fehlers. Elkayam sagt: „Es steht bereits fest, dass Scholem zu kurzsichtig war, um die Echtheit Ashlags anzuerkennen. Der Westen zeigt erneutes Interesse in Kabbalah und vieles davon gründet sich auf Ashlags Werk.“ Elkayam glaubt, dass das innere Leben des religiösen Publikums in Israel an einer bedeutenden Wende steht und Ashlag dabei eine Schlüsselrolle spielt.
 
„Wie durch die philosophischen Augen seines Sohnes gesehen, erschaffte Rabbi Isaac Kook einen Mystizismus von Besitz  und Vereinbarung. Da die Grundfesten, auf denen Gush Emunim steht, nun zerbröckeln, kann Ashlag eine Alternative anbieten, eine Kabbalah, die nicht auf Vereinbarungen basiert, sondern auf persönliches Bewusstsein und dem Heilen von Gesellschaft und der Welt. Ashlag ist es möglich, die Grundlage für ein Konzept sozialer Gerechtigkeit, welches sich auf die spirituelle Grundlage der Kabbalah stützt, anzubieten. Wir sind nun erst am Anfang und müssen vorsichtig sein. Es bedarf großer Aufwendung um Ashlags Kabbalah wirklich zu verstehen – vier Jahre kontinuierliches Studium von morgens bis abends. Was Ashlag betrifft, so sind wir, die gesamte akademische Welt, erst am Anfang.
 
Yehuda Ashlag, geboren 1885 in Warschau, war schon als Kind von der Kabbalah fasziniert. Rabbi Avraham Mordechai Gottlieb, dessen Heiligengeschichte von Rabbi Ashlag, auch „HaSulam“ genannt, unschätzbares Material über sein Leben liefert, berichtet, dass, als Ashlag erst 7 Jahre alt war, ihm ein Kabbalahbuch auf den Kopf fiel, als er im Bett lag.
„Was ist das?“ fragte er seinen Vater.

„Dieses Buch ist für Engel, nicht für Menschen“ antwortete ihm sein Vater.
 
„Wenn es veröffentlicht ist, dann ist es auch für jedermann“, gab der junge Yehuda zurück.

„Aber nicht für Dich“, wie sein Vater augenscheinlich erwiderte.
 
Der junge Ashlag war von dieser Antwort nicht überzeugt. Noch als Teenager riss er anscheinend Seiten aus dem „Etz Chayim“ –„Baum des Lebens“ von Rabbi Isaac Luria heraus um sie in dem Talmudband zu verstecken, den er gerade lernen sollte. Er wurde im Alter von 19 Jahren zum Rabbi berufen und hatte den Ruf eines ausgezeichneten Kenners des Talmuds. Man gab ihm sofort einen Lehrerposten, und er wurde für einen Experten in rechtlichen Streitfragen gehalten.
 
Als Student von Chassidismus und Kabbalah war Ashlag auch ein Schüler des Rabbi von Prosov, der zur berühmten Kotzker Schule gehörte, und selbst ein Enkel eines der grössten Meister des Chassidismus war, „Der Heilige Jude“. Doch der Prosover Rabbi war nicht sein alleiniger Mentor. In einem Brief an seinen Onkel, dessen Inhalt erst nach seinem Tod seiner Familie und den Schülern bekannt wurde, schrieb Ashlag von einem Treffen mit einem mysteriösen Lehrer in Warschau 1918. Der Lehrer, ein wohlbekannter Kaufmann, dessen Identität Ashlag geheim hält, führte ihn in mitternächtlichen Sitzungen drei Monate lang in die Geheimnisse der Kabbalah ein, und verschwand, als sein Schüler sich vor Stolz aufblähte. Knapp zwei Monate später trifft Ashlag diesen Lehrer zum letzten Mal wieder. Nach der Enthüllung eines großen Geheimnisses wird der Lehrer sichtbar schwach und stirbt am nächsten Tag. In seiner Trauer vergisst Ashlag buchstäblich fast alles, doch „nach unendlichem Verlangen und tiefer Sehnsucht öffnete sich mein Herz mit übernatürlicher Weisheit wie die Wasser einer immer sprudelnden Quelle“.
 
Von Ashlag wurde gesagt, dass er unentwegt die Torah studierte, doch haben ihn seine Neugier und kompromisslose Suche nach der Wahrheit abseits seiner Studienschule gebracht. Er lernte deutsch und las Hegel, Schopenhauer, Marx und Nietzsche im Original. In den tumultartigen Nachkriegszeiten von 1918 nahm Ashlag an sozialistischen und kommunistischen Demonstrationen auf den Strassen Warschaus teil und nahm regen Anteil an der politischen Weltentwicklung.
 
1921, im Alter von 36, zog Ashlag einer plötzlichen Entscheidung folgend nach Israel. Laut Gottleib, nach einem Gespräch von Ashlags Schüler mit der Frau des Meisters, Rivka Roize, war Ashlag überzeugt, dass er nur in Israel spirituelle Herausforderungen finden würde. Bliebe er in Polen, würde er von Gott genommen sterben, da seine Arbeit dort beendet war. Seine Abreise war so überstürzt, dass er gezwungen war, einige seiner Kinder bei Verwandten in Warschau unterzubringen und seine Frau, die auf der Reise nach Palästina ein Kind gebar, in der Tschechoslowakei zu hinterlassen; sie war einige Monate später wieder bei ihm.
 
Nachdem er in Israel angekommen war, ließ er die Kinder in einem Einwanderungsheim in Jaffa und ritt auf einem Esel nach Jerusalem. Wie ein Pfeil, der auf sein Ziel zusteuert, ging er in Richtung der Beit El Studierschule in der Altstadt, die seit Jahrhunderten ein Kabbalahzentrum war, welches noch in der sephardischen Tradition unterrichtet und seit 200 Jahren den Lehren des Yemenitischen Kabbalah Meisters Rabbi Shalom Sharabi folgt.

Enttäuschung in Jerusalem

Doch Ashlag war von den Jerusalemer Kabbalisten tief enttäuscht. Nach einem Treffen mit ihnen, welches in Gottleibs „HaSulam“ gedruckt wurde, griff Ashlag dieses sephardische Herangehen scharf an und erklärte es als dem seinigen genau entgegengesetzt. Ashlag bemühte sich, die innere Bedeutung der Kabbalah, welche er für das stärkste Mittel für die menschliche Veränderung hielt, zu erschließen und auszudrücken.

Obwohl mehrere Beit El Schüler den „Sohar“ und die Lurianischen Werke auswendig kannten, erklärten sie nach Ashlags Aussagen, dass es menschlich unmöglich sei, die Bedeutung der Kabbalah zu verstehen, und dass nicht einmal Luria selbst die Bedeutung der Symbole und Vorgänge, die er beschreibt und vom Propheten Elija als Offenbarung erhielt, verstünde. „Um Gotteswillen“ riefen sie als Antwort auf seine Fragerei aus, wie Ashlag sich erinnert, „es gibt keine innere Bedeutung – nur Worte, wie sie geschrieben und uns weitergegeben wurden. Nichts weiter.“ Durch Meditation und Wiederholung dieser heiligen Worte, die für menschliches Verständnis absolut unerreichbar waren, erhofften die Beit El Kabbalisten, spirituellen Fortschritt zu erreichen und eventuell den Messiah hervorzubringen. Ashlag hielt diese Beit El Kabbalisten für Narren und berichtet, dass er nach dem Treffen mit ihnen von feurigem Eifer gepackt wurde. Dieser Geist erweckte in ihm die Aufgabe, die ihn bis an sein Lebensende beschäftigen sollte: „die Kabbalah in solchem Ausmaße zu enthüllen, dass es bekannt werden wird, dass es Weisheit in Israel gibt“.
 
„Für Ashlag ist die Kabbalah weder dämonisch, mystisch noch magisch, sondern logisch. Sie folgt einer wissenschaftlichen Gedankenlinie“ sagt Prof. Elkayam.  „Einer der neuartigen Behauptungen von Ashlag ist, dass das Judentum eine spirituelle Wissenschaft hat, die Kabbalah“. Und diese spirituelle Wissenschaft ist unbedingt für die Menschheit bestimmt.
 
In der Lurianischen Kabbala wird das Zerbrechen der Gefässe als eine kosmische Katastrophe bezeichnet, die vor der Schöpfung der Welt erfolgte. Gott versuchte Licht in die von ihm gemachten Gefässe fliessen zu lassen, aber diese sind zu klein und unflexibel, um es halten zu können. Die Gefässe zerbrachen, und Funken göttlichen Lichtes fielen bis in die dunkle Welt der „Schalen“, – die grundlegende Form in der materiellen Welt. Das Zerbrechen der Gefäße und das Eingeschlossensein des göttlichen Lichtes innerhalb der Schalen, macht Tikkun notwendig – die  kosmische Korrekturarbeit, welche die Seele verrichten muss. Durch unser Bewusstsein, unsere Absicht und guten Taten können wir die Gefässe reparieren und die Funken nach oben erheben.
 
„Es besteht ein allgemeines Verständnis, dass die Kabbalah etwas Mystisches ist, das sich mit spirituellen Welten und ähnlichem beschäftigt“, sagt Rabbi Avraham Brandwein, Sohn von Rabbi Yehuda Brandwein und selbst ein Schüler der Ashlag Kabbalah. „Seine Einstellung war das Gegenteil, nämlich, dass alles einen praktischen Aspekt hat und Teil dieser Welt, dieser Welt voller Aktionen, ist. Zum Beispiel interpretiert er das Zerbrechen der Gefässe und deren Reparatur in Bezug auf die menschliche Gesellschaft. Die menschliche Gesellschaft “reparieren“ bedeutet, eine Garantie zu geben, dass jeder bekommt, was er braucht und gibt, was ihm möglich ist. Alle Ungerechtigkeiten und gesellschaftlichen Unterschiede sind  dadurch entstanden, weil Menschen mehr bekommen, als sie brauchen. Das verdirbt sie und die Welt. Der Reichtum, der vom Himmel fließt, ist ausreichend, und wenn die Verteilung gerecht wäre, dann könnte jeder sorgenlos leben.

Im Gegensatz zur bisherigen Kabbalah und dem Chassidismus, die Wert auf Frömmigkeit und einzelne mit Absicht ausgeführte Taten legten, um die Funken wieder zu erheben, setzte Ashlag Probleme wie soziale und wirtschaftliche Gerechtigkeit zum Mittelpunkt für das kabbalistische Tikkun (die letzte Korrektur).
 
Sechs Jahre nach seiner Ankunft veröffentlichte Ashlag seine ersten Kabbalahwerke – einen Kommentar zu Lurias Haupabschnitte im „Baum des Lebens“, Panim Meirot und Panim Masbirot genannt, in welchem er die grundlegende Sprache und Begriffe einführt, die er sein ganzes Leben zur Interpretation der Kabbalah benutzen wird. Dr. Boaz Huss, Universität Ben Gurion, nannte das Wesentliche seiner neuen Denksweise „Ashlags radikale Verlagerung des Schwerpunktes in der Bedeutung der Kabbalah“, und sie liegt in seiner neuen Konzentration auf die unglaublich vielschichtige Lurianische Erzählung, in der berichtet wird, dass die Geschichte der kosmischen Schöpfung und Erlösung sich um ein und dieselbe Achse drehen: die Transformation der Menschheit vom selbstzerstörenden Egoismus zum Altruismus, der jeden Einzelnen in eine Empfangsfrequenz für göttliches Licht verwandelt.

Von Anbeginn hat der Chassidismus bei der Interpretation der Kabbalahtradition die ethische Seite hoch und die mystische heruntergespielt, wie Avi Bernstein, ein Bar-Ilan Student, der an Ashlag für seine Doktorarbeit arbeitet, bemerkte. Doch war Ashlag der erste, der zeigte, wie die innere Logik der lurianischen Kabbalah in all ihren mannigfaltigen Einzelheiten ein Vehikel für ethische Transformation werden kann.
 
Ashlags Kabbalah verschärft die dialektische Natur des Vorganges, den Luria beschreibt. Gottes Wille, das Wesen seines Lichtes, ist es, Freude und Glückseligkeit, zu schenken. Freude, sei es körperliche oder spirituelle, kann  jedoch nur verspürt werden, wenn ein Verlangen danach existiert. Daher schaffte Gott “den Willen zu empfangen“, das aus dem Wunsch bestehende Empfangsgefäß, in welches Sein Licht gegossen werden kann. Der Wunsch zu empfangen, welches der eigentlichen Natur der erschaffenen Geschöpfe entspricht, steht jedoch dem göttlichen Willen zu geben, genau gegenüber. Der Wunsch des Geschöpfes zu empfangen entfernt es von Gott und macht das Aufnehmen des Lichtes unmöglich. Die einzige Lösung für die Geschöpfe liegt in der Entwicklung des altruistischen Wunsches zu geben, Hand in Hand mit ihrem hochentwickelten Wunsch zu empfangen. Dieses kann durch das Studium der Kabbalah, welche reinigendes und göttliches Licht durch Glauben in den Verstand lässt und besonders durch Praxis erreicht werden: mit der Entwicklung einer Gemeinschaft, die auf Liebe unter ihren Mitgliedern basiert und einer Gesellschaft, die auf ökonomischer Gerechtigkeit gegründet ist.
 
Der Hohepriester der Kabbalah’
 
Nach seiner Ankunft in Jerusalem 1921, versuchte Ashlag ungefähr zwei Jahre unerkannt dort zu leben, und versorgte seine Familie durch körperliche Arbeit tagsüber und schrieb nachts. Durch die Lobsagungen, die am Anfang seines Buches gedruckt wurden, wird es klar, dass, als sein erstes Buch 1927 erschien, sein Genie und seine Frömmigkeit von einigen der  bedeutendsten Rabbis anerkannt wurden. Rabbi Yosef Chaim Sonnenfeld, der spirituelle und politische  Führer der ultra-orthodoxen Israeli Gemeinschaft und Haupt des rabbinischen Hofes nannte ihn „den großen Mann, den Hohepriester des Studiums der Kabbalah“.
 
Rabbi Abraham Isaak Kook, der Hauptrabbi von Palästina und auf politischem Kriegsfuss mit dem Antizionisten Sonnenfeld, stimmte ihm im Hinblick auf Ashlag zu: „ein göttlicher weiser Mann, heiliger Schatz“. Sogar Rabbi Shaul Dueck, der anerkannte Führer Jerusalems Sefardischen Kabbalisten macht seinen Beitrag, indem er Ashlag „einen göttlichen Kabbalisten“ nennt.
 
Und doch machen diese Lobgesänge das Bild nicht vollständig. Ashlag ist ruhelos, sein enormes Gefühl eine Mission zu haben, garantiert, dass er nirgendwo hinpasst, und seine radikalen Ansichten rufen Gegner hervor. 

Durch die Intervention von Sonnenfeld, wird er 1924 zum Rabbi von Givat Shaul in Jerusalem, doch ist er geographisch gesehen unbeständig: er zog noch sieben Mal in seinem Leben um. 1926 reist er nach London, wo er zwei Jahre mit Studieren und Schreiben verbringt. 1928 zieht er wieder nach Givat Shaul, aber innerhalb von vier Jahren zieht er wieder um – nach Tel Aviv. Kurz nach Ankunft in Jerusalem beginnt er eine Gruppe ihm ergebender Studenten zu sammeln; gemäß  seinen Anweisungen müssen sie sich ihr Leben durch manuelle Arbeit verdienen. Auf dem Wege zu ihm und dem nächtlichen Kabbalahunterricht in Givat Shaul um zwei Uhr morgens mussten sie sich durch Felder mit Wölfen und Banditen durchkämpfen. Doch so sehr diese Gruppe ihm auch ergeben ist, bleibt sie doch klein. Seine offen vertretene Meinung, dass Kabbalah nicht länger eine geheimnisvolle Studie ist, zusammen mit der Ansicht, das nur Kabbalah die Welt vor einer Katastrophe retten kann und kabbalistische Ideen wie Zeitungen verteilt werden sollten – all dieses machte ihn zu einer umstrittenen Figur in der ultra-orthodoxen Welt.

Und nicht nur dort. 1933 versuchte er seine Ideen in Form von Zeitungen zu verbreiten, angefangen mit einer Broschüre, deren Überschrift sich las:“ Gewidmet der Verbreitung von Originalberichten über die jüdische Seele, Religion und Weisheit der Kabbalah für die Menschheit“. 1940 startete er eine neue Veröffentlichung: eine zweiwöchentliche Zeitung „Ha’uma“ (Die Nation). Aber seine gerade flügge gewordene Publikation wurde von der  Britischen Mandatspolizei wieder geschlossen, da Ashlag angeklagt war, kommunistische Ansichten zu verbreiten. Das Wichtigste in der Thora ist die Aussage „Liebe Deinen nächsten wie Dich selbst“ – und er übersetzte dies als göttlichen Befehl, eine neue Welt zu schaffen, die auf radikaler wirtschaftlicher Gleichheit basierte, „ von jedem nach seinen Fähigkeiten zu erhalten“ und „jedem nach seinem Bedarf zu geben“. Er schreibt, dass nur in einer Welt, die von imperialistischer und wirtschaftlicher Ausbeutung befreit ist, Juden und die Menschheit anfangen können, ihr spirituelles Potential zu erfüllen.
 
Für Ashlag durfte die Erfüllung seiner Vision jedoch keinen Verzögerungen unterliegen. Die zunehmende Möglichkeit von der unmittelbar bevorstehenden Gründung eines jüdischen Staates erschien ihm als beste Möglichkeit, die von ihm gesuchte Metamorphose  auszulösen. Die Juden gelten aufgrund ihrer göttlichen Auswahl und Leidensgeschichte als Avantgarde für die Menschheit  – die Gründer einer idealen Gesellschaft, deren Vorbild schnell auf andere überspringen wird. Er beginnt, Möglichkeiten zu erforschen, um politische und intellektuelle Führer der zionistischen Arbeiterbewegung zu beeinflussen.
 
Professor Dov Sadan, Herausgeber der nicht mehr bestehenden Zeitung ‚Davar’, stellt ihn Chaim Arlosoroff, Chaim Nachman Bialik, Yaakov Chazan und David Ben-Gurion vor, mit welchem er eine besondere Verbindung eingeht. „Er fragte mich mehrere Male, ob wir eine kommunistische Ordnung einführen könnten nach der Gründung des Staates Israel“, schreibt Ben Gurion Mai 1958 in einem Brief  an Rabbi Yehuda Brandwein.
 
Tief erschüttert von dem Holocaust, der Entwicklung von Atomwaffen und der Brutalität des stalinistischen Regimes in der Sowjetunion, arbeitet Ashlag mit einem wachsenden Gefühl der Dringlichkeit an der Verbreitung und Interpretation der Kabbalah. Er scheint seine Versuche, die zionistische Führerschaft zu beeinflussen und die Hoffnung auf von oben gegebene Werte des politischen Kommunismus aufgegeben zu haben. Was er allerdings vorschlägt ist eine Art Weltreligion, die auf altruistischer, sozialer Gerechtigkeit gegründet ist, in der jede Kultur ihre eigenen, besonderen religiösen Traditionen beibehält und dabei hilft, Ausbeutung und Armut auszurotten. Kommunismus ohne spirituelle Grundlage, schreibt er während dieser Zeit in seinen meist unveröffentlichten Aufsätzen, ist potentiell ausbeutender als der schlimmste Kapitalismus, da er die Angst verwenden muss, um Produktivität auszulösen. 
 
Wie Sherlock Holmes
 
Die gesamten enormen mentalen Energien Ashlags gehen in sein episches Projekt, den Kommentar zum „Sohar“, den „HaSulam“, erinnert sich Rabbi Avraham Brandwein, der zehn Jahre alt war, als Ashlag starb, und der sah, wie Ashlag fast zehn Stunden täglich auf und ab ging und über kabbalistische Ideen nachdachte, wie Sherlock Holmes, der dabei war, einen Fall zu lösen.
 
Für lange Zeit war Ashlag von einem Gefühl göttlicher Ordination besessen: Seine Seele hatte die Aufgabe, eine kabbalistische Sprache für die heutige Zeit zu schaffen, eine Ära, in der der „Wille zu empfangen“ aus den Nähten seiner Kapazität platzt und letztendliche Erlösung und schreckliche Zerstörung zu unmittelbar bevorstehenden Möglichkeiten macht. In einem Brief an seinen Vater 1927, verwendet er mit Überzeugung den Begriff „geschwängert“ (hit´aber) -ein kabbalistischer Begriff von Rabbi Isaac Luria für den Vorgang, bei dem eine Zaddikseele aus vorheriger Generation eine lebende Person betritt und in ihr lebt, mit dem Ziel, eine große Aufgabe zu verrichten. „Und wisse mit Sicherheit, dass seit der Zeit vom  Ha’Ari (wörtlich der Löwe, Lurias Spitzname) bis heute, es niemanden gab, der von Grund auf Aris Methode verstanden hat.  Und siehe da, durch den Willen Gottes wurde ich von der Seele vom Ari, gesegnetes Angedenkens, „geschwängert“, und nicht wegen meiner guten Taten, sondern von göttlichem Willen her, aus Gründen, die ich selbst nicht verstehe. Es ist mir nicht möglich, diese Dinge weiterhin zu beleuchten, da es nicht meine Art ist, von Wundern zu sprechen“.

In der Einführung zum „Sohar“, am Anfang seines „HaSulams“ steht in seiner ruhigen Ausdrucksweise die gleiche Meinung gedruckt: dass seine maßgebende Interpretation eine neue Ära für die Kabbala markiert, ähnlich dem Erscheinen des „Sohars“ und den Werken von Luria selbst.
 
Obwohl er nachhaltig kabbalistischen Wunderwerken widersprach und hartnäckig behauptete, dass menschliche Erlösung sich als Resultat eines natürliches Vorganges entfalten muss, vermuteten seine loyalen Schüler, dass ihr Meister, der fast in Obskurität arbeitet, sich in Wirklichkeit im Mittelpunkt aller sich entfaltenden Geschehnisse befindet, die die Juden und vielleicht sogar die gesamt Menschheit betreffen.
 
Während des Unhabhängigkeitskrieges saß Ashlag laut Rabbi Avraham Gottleibs „HaSulam“ zusammen mit einigen seiner Schüler täglich vor der Karte Israels und sagte die Schlachtergebnisse voraus, seine „Chassidim waren dabei überzeugt, dass der Kriegsverlauf sich im Inneren ihres Lehrers abspielte“.
 
Sein Enkel, Rabbi Yechezkel Ashlag erzählte mir, dass er 1953 zusammen mit ihm bei einem Festmahl  im Herzlya Hotel in Safed die Vervollständigung  des „HaSulam“ feierte und sein Großvater gerade dabei war, langsam eine selbst komponierte, gefühlvolle Melodie zu singen, als der Besitzer des Hotels, Moshe Perl aufgeregt ausrief: „An diesem Tisch wurde gerade Stalin umgebracht!“ Wir hielten ihn alle für verrückt, doch auf dem Rückweg vom Hotel hörten wir im Radio, dass Stalin tot war.

Während seiner letzten Lebensjahre war er mehr und mehr davon überzeugt, dass wirklich ein Wendepunkt in der menschlichen Geschichte erreicht wurde. Er betrachtete die Gründung des Staates Israels als ein Zeichen dafür, dass Erlösung bereits gegeben war, obwohl im spirituellen Reich es immer einen Zeitunterschied zwischen geben und erhalten gibt. Und bei einer anderen Feier gab er seinen Schülern kund, dass die Veröffentlichung vom „HaSulam“ ein Hinweis war, im messianischen Zeitalter zu leben. In anderen Generationen war es nur wenigen vergönnt, große Höhen an spirituellem Wissen und eine Verbindung zu Gott zu erreichen, und auch ihnen konnte nicht alles enthüllt werden.
 
Doch unserer Generation wurde das Geschenk der „HaSulam“ Interpretation beschert, die vollständig erklärt, was der „Sohar“ in Begriffen für den einfachen und analytischen Intellekt zum Verständnis des Durchschnittsmenschen bedeutet, und es ist ein klares Zeichen, dass wir in einem messianischen Zeitalter, am Beginn einer Generation leben, von der gesagt wurde: „Und die Erde wird mit dem Wissen über Gott erfüllt, wie Wasser die Meere bedeckt“.
 
NeueChassidische Dynastien
 
Warum hat es ein halbes Jahrhundert gedauert, bis sich Rabbi Yehuda Ashlags Lehren außerhalb seines kleinen Zirkels seiner nahestehenden Studenten und deren Jüngern ausbreitete? Eine Antwort liegt in der Tatsache, dass seine Söhne ihre Niederlassungen in Bnei Brak innerhalb der ultraorthodoxen Welt, auswählten, und beide versuchten, eine neue Chassidische Dynastie zu etablieren, von der beide behaupteten, der auserwählte Führer zu sein.
 
1980 studierte ich einige Monate mit Ashlags jüngerem Sohn Rabbi Shlomo Binyamin in seiner Studierschule in Bnei Brak. Seine Schüler waren hartgesottene ältere Chassidim, ein paar blendende jüngere Anhänger, darunter Rabbi Akiva Orzel,  und eine buntgemischte Gruppe von „Ba’alei Tshuva“ (zeitgenössischen befolgenden Juden), die jeden Morgen um 5.30 aus Tel Aviv kamen, um seinem Kabbalahunterricht beizuwohnen. Rabbi Shlomo, selbst um die siebzig und Überlebender von einigen Herzanfällen, war prägnant, inspiriert, unermüdlich und widmete seine volle Aufmerksamkeit der Arbeit seines Vaters. Er verlor seinen Zeigefinger während Bauarbeiten, und ist stolz auf diesen Defekt. Wie sein Vater hielt er viel von manueller Arbeit und bestand auf den Gebrauch öffentlicher Transportmittel, wann immer er auf Reisen war. Innerhalb Bnei Braks wurde seine radikale Widmung für die Verbreitung der Kabbalah mit Argwohn betrachtet.

Die konservative Veranlagung der ultraorthodoxen Welt ist nur eine Erklärung. Andere Ashlaganhänger wie Rabbi Yehuda Brandwein, Rabbi von Histadrut lebten und lehrten in einem größeren Umfeld: Brandwein zog unmittelbar nach dem 1967 Krieg in die Altstadt Jerusalems. Einer seiner Schüler, der berühmte Rabbi Philip Berg, gründete das erste Kabbalahforschungszentrum in den Endsechzigern, und versuchte eine größtmögliche Zuhörerschaft zu erobern. Rabbi Levi Krakovski, Schüler von Ashlag dem Älteren, begann schon 1937 Bücher über die Ashlag Theorie in Englisch zu veröffentlichen. Sein erstes Buch, an welchem Madonna Interesse zeigte, wurde in Hollywood veröffentlicht. Und dennoch blieben Ashlag und seine Kabbalah bis heute im Hintergrund.
 
Prof. Elkayam nimmt an, dass die neue Beliebtheit von Ashlags Kabbala der weitgehenden kulturellen Umverlagerung im Westen zu verdanken ist. Während Hinduismus und Buddhismus die steuernden Kräfte in den sechziger und siebziger Jahren darstellten, und Sufismus gleicherweise in den achtziger Jahren einflussreich war, wird Kabbalah heute in der Epoche nach dem elften September die organisierende Kraft westlicher Spiritualität.
 
„Ashlag gelang es, heutige Gedanken in der Kabbalah zu verinnerlichen und zu vereinen“, sagt Dr. Boaz Huss der Ben Gurion Universität. Der Marxismus wird z.B. Teil einer „dialektischen Leiter“ in Ashlags Kabbalah und führt das Individuum zur Erleuchtung und gemeinsamen Erlösung. „In Ashlags Gedankenwelt wird die Kabbalah als Vorbild für menschlichen Fortschritt angesehen“ und genau dieses macht sie für das heutige Publikum so attraktiv.
 
„Sein Konzept von Altruismus“ fügt Elkayaham hinzu, „berührt eine Saite in der christlichen Welt, die ihre eigene Tradition von Altruismus besitzt“.
 
Dr. Tony Lavie sieht die einzigartige Anziehungskraft in der Ashlag Kabbalah in dem Weg, den sie für die individuelle Verwirklichung anbietet. „Ashlags Methode gibt einem Menschen die Werkzeuge, sich jeder gegebenen Situation bewusst zu werden und zu wissen, wo er geistig steht“. Die klare, systematische Eigenschaft von Ashlags Kabbalah ist besonders attraktiv für die immer chaotischere Welt: „Sie liefert eine vollständige konzeptuelle Struktur für die Psyche. „Innerhalb von 10 Jahren wird sich die Ashlag Torah nicht nur in Israel sondern auch  in der ganzen Welt verbreiten“.

Für Rabbi Laitman gibt es einen metaphysischen Grund für das jetzige Auftauchen von Ashlags Kabbalah: “die Welt ist dabei, die endgültige Verdichtung des „Willens zu empfangen“ zu erreichen. Sehen Sie, was in China passiert: in den letzten zehn Jahren haben zwei Milliarden Menschen angefangen, sich als Verbraucher zu sehen, in eine riesengroße, unbegrenzte globale Wirtschaft verankert. Es besteht auf der ganzen Welt eine riesengroße Explosion des Willen zu empfangen“.
 
Nur eine gleich große und weitverbreitete Enthüllung der Geheimnisse der Thora kann eine apokalyptische Zerstörung aufheben und Heilung bringen. Die Meinung, dass dieselbe Rohheit und Eigenliebe der heutigen Welt ebenfalls ein Vakuum sind, welches das nötige und gerechtfertigte Verbreiten des kabbalistischen Lichtes anzieht, ist nicht Ashlags alleinige Idee: Der Chabad Chassidismus z.B. hat ebenfalls diese Idee benutzt. In den Schriften von Marx gibt es auch einen Vergleich, dass nur die Grausamkeit des vorangeschrittenen Kapitalismus selbst die Bedingungen für eine Weltrevolution schaffen kann. Ashlags einzigartiger Beitrag scheint in der nahtlosen Vereinigung vom spirituellen und dem wirtschaftlichen, dem sozialen und persönlichen, dem intellektuellen Studium einer abstrakten Methode und der grundlegendsten  Art von Praxis zu liegen. Wie weit sein Traum von der esoterischen Tradition des Judentums zur Transformation des menschlichen Bewusstseins und der Gesellschaft gehen wird, ist noch abzuwarten.
 
Ein Artikel aus der Zeitung Haarez vom 17.12.2005 für das Kabbala Bildungs- und Forschungsinstitut.
 

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