Zeitlos

Der Ewige hat am Berg Sinai alle Generationen Israels versammelt, um ihnen die Tora zu geben.

4 Min.

Rabbiner David Goldberg

gepostet auf 17.03.21

Bund fürs Leben

Der Ewige hat am Berg Sinai alle Generationen Israels versammelt, um ihnen die Tora zu geben.

Die Parascha Nizawim beginnt mit den Worten: »Ihr steht heute alle vor dem Ewigen, eurem G’tt, eure Häupter, eure Stämme, eure Ältesten und eure Aufseher, alle Männer Israels. Eure Kinder, eure Frauen und der Fremde, der in deinem Lager ist … Um auf den Bund mit dem Ewigen eurem G’tt und auf den Eid einzugehen, auf den dich der Ewige, dein G’tt, heute verpflichtet. Um dich heute zu seinem Volk zu erheben und dein G’tt zu sein, wie er es dir verheißen hat und wie er es deinen Vätern Awraham, Jitzchak und Jakow geschworen hat. Nicht euch allein verpflichte ich auf diesen Bund und diesen Eid, sondern neben dem, der heute hier bei uns vor dem Ewigen, unserem G’tt steht, auch den, der heute nicht hier bei uns ist« (5. Buch Moses 29, 9-14).

 

Diese Sätze sagt Mosche zum ganzen Volk kurz vor seinem Tod. Es sind die gleichen Worte, die er verwendet hat, als Israel die Zehn Gebote auf dem Berg Sinai bekommen hat. An beiden Stellen hat G’tt dem Volk Israel geschworen, dass es immer das auserwählte Volk sein werde. Dafür haben die Israeliten G’tt versprochen, ihn immer als den einzigen G’tt anzuerkennen.

 

Da wir damals noch nicht gelebt haben, fragen wir uns, warum wir immer noch an jenen Eid gebunden sind. Unsere Weisen erklären es so: G’tt versammelte auf dem Berg Sinai das Volk der Israeliten und die Seelen aller Juden, die auch in der Zukunft geboren werden. Alle zusammen erklärten gemeinsam: »Alles was der Ewige geredet hat, wollen wir tun! (2. Buch Moses 19,8).

 

In diesen und in einigen anderen wichtigen Versen steht das hebräische Wort »hajom«, deutsch: »heute«. Dazu erklären unsere Weisen: »Jeden Tag sollten wir Juden das Gefühl haben, als ob wir gerade heute erst die Gesetze bekommen haben, und wir sollen nicht denken und das Gefühl haben, dass es sich bei den Gesetzen um alte, primitive und bereits verstaubte Vorschriften handle. Die Tora ist uns von G’tt für alle Zeit gegeben worden, unabhängig davon, wann wir leben. Maimonides (um 1135–1204)) schreibt in seinen 13 Glaubensartikeln in Satz 9: »Ich glaube mit voller Überzeugung, dass die Tora niemals ausgewechselt wird und dass es keine andere Tora vom Schöpfer, gelobt sei Sein Name, geben wird.«

 

 

AUSGLEICH

 

Die Parascha Nizawim liest man in den Synagogen immer vor den Hohen Feiertagen, also am letzten Schabbat im alten Jahr. An diesem Tag hat man noch einmal die Gelegenheit, Kleinigkeiten, die man das ganze Jahr über am Schabbat vernachlässigt hat, auszugleichen.

 

Dieser Zeitpunkt ist kein Zufall, denn der Anfang der Parascha beschreibt: »Ihr steht heute alle vor dem Ewigen …« (29,9). Das ist genau das, was an den Hohen Feiertagen mit uns passiert: Wir stehen vor dem Ewigen und legen Rechenschaft über das vergangene Jahr ab, und G’tt fällt ein Urteil über uns und entscheidet, was mit uns im nächsten Jahr geschehen soll. Interessant ist, dass in diesem Monat das Sternbild Waage dominiert.

 

Einen anderen Hinweis entnehmen wir der Überlieferung. Sie berichtet, dass G’tt an Rosch Haschana Adam und Chawa erschaffen hat (talmudisch), und an diesem Tag (Rosch Haschana) haben die beiden gesündigt. Dies kam vor G’tt, und er hielt Gericht. So wurden sie an diesen Tag aus dem Gan Eden vertrieben. Weiter heißt es, dass der Ewige zu Adam sagte, dass in diesen Tagen immer die Tage des Gerichts sein werden, aber auch die Zeit der Umkehr (Tschuwa). Wie wir wissen, ist es auch die Zeit, in der G’tt uns Menschen näher ist und die Tschuwa leichter ist als sonst.

 

Im 5. Buch Moses 29, 9-12 steht geschrieben, dass der Bund mit allen Israeliten geschlossen wurde. Dem entnimmt man, dass jeder Einzelne für den anderen bürgt und einsteht. Je älter und gelehrter der Mensch ist, umso höher ist dessen Verantwortung gegenüber dem Volk (arewim se laseh). Das ganze Volk ist wie ein Körper: Tut ein kleines Glied weh, schmerzt und leidet der ganze Körper.
Im Kapitel 30, Vers 11 lesen wir: »Denn dieses Gebot, das ich dir heute gebe, ist dir nicht zu schwer und liegt dir nicht zu fern. Es ist nicht im Himmel, dass du sagen könntest: Wer sollte von uns in den Himmel steigen, es uns zu holen und es uns vernehmen lassen, dass wir danach tun. Und es ist nicht jenseits des Meeres, dass du sagen könntest: Wer sollte für uns über das Meer fahren, es uns zu holen und es uns vernehmen zu lassen, dass wir danach tun. Sondern es liegt dir sehr nahe, in deinem Munde und in deinem Herzen, so dass du danach tun kannst.« Unsere Weisen diskutieren, von welchem Gebot hier die Rede ist. Raschi (1040–1105) sagt, es handelt sich um das Gebot des Toralernens. Nachmanides (1194–1270) hingegen meint, es gehe um das Gebot der Tschuwa.

 

Warum schreibt die Tora, das Gebot sei nicht im Himmel oder jenseits des Meeres, sondern sehr nah: im Mund und im Herzen? Die Antwort lautet, dass es für uns sehr schwer ist, sich Zeit zu nehmen, Tora zu lernen, und es ist noch schwerer, richtige Tschuwa zu G’tt zu tun, aber nur solange, bis wir mit beidem angefangen haben. Darum sagt die Tora auch: »es ist nah in deinem Mund und in deinem Herzen«.

 

Im Traktat Kidduschin steht geschrieben: »G’tt sagt, ich habe zwar auch den bösen Trieb erschaffen, aber als Gegengewicht die Tora. Denn nur durch sie kann man den bösen Trieb besiegen.« Der böse Trieb versucht immer, uns vom Lernen der Tora abzuhalten, denn er weiß, wenn der Mensch anfängt, Tora zu lernen und beginnt, sie zu lieben, hat der böse Trieb verloren. Daher versucht uns der Jezer ha’Ra, vom Toralernen abzuhalten und vermittelt uns das Gefühl, dass ein Anfang unendlich schwer sei. Im 5. Buch Moses 30,1 steht geschrieben: »… wenn G’tt dich zerstreut hat (hidichacha) unter andere Völker«. Doch »hidichacha« bedeutet »abweisen, verstoßen« und nicht »loslassen«. Das heißt, G’tt ist dem Volk der Israeliten immer noch nah und hat es nicht fallen lassen. G’tt kann es jederzeit zurückholen (vgl. 30, 4-6).

 

Ich hoffe, dass jeder Jude die Zeit vor Rosch Haschana nutzt, um darüber nachzudenken, was G’tt von ihm erwartet.

 

 

Der Autor ist Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz (ORD). Dieser Artikel erschien in der Jüdischen Allgemeinen.

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