»Hineni – Hier bin ich!«

Was es bei Menschen bewirkt, wenn G’tt sie mit ihrem individuellen Namen anspricht ...

3 Min.

Rabbiner Jaron Engelmayer

gepostet auf 15.03.21

RUF

 

Was es bei Menschen bewirkt, wenn G’tt sie mit ihrem individuellen Namen anspricht …

 

»Ich komme mit einer Botschaft G’ttes zu Ihnen.« Nicht selten kam es vor, dass ein Mann mit diesen Worten das Rabbinatsbüro betrat, um der jüdischen Gemeinschaft vor Ort erhabene Worte zu überbringen, die er meinte, direkt aus höchster Sphäre empfangen zu haben.

 

Der Talmud (Joma 69b) beschreibt, weshalb uns seit der Zeit des Zweiten Tempels vor rund 2400 Jahren das Wort G’ttes nach jüdischer Auffassung nicht mehr direkt erreicht und warum die Prophetie in ihrer bisherigen Form verschwand.

 

Davor jedoch war es durchaus üblich, dass G’tt zu Menschen sprach, gemäß dem Talmud in Megilla 14a sogar millionenfach! Doch kein Mensch erreichte die hohe Stufe der Prophetie unseres großen Lehrers Mosche, wie die Tora mehrfach herausstreicht (5. Buch Mose 34,10 und 4. Buch Mose 12, 6–8).

 

 

FORM

 

Eine Besonderheit dieser hohen Form der Prophetie wird gleich zu Beginn unseres Wochenabschnitts, mit dem auch das dritte Buch der Tora beginnt, hervorgehoben: »Und Er rief Mosche zu, und G’tt sprach zu ihm vom Stiftszelt aus wie folgt …« Ungewöhnlich kompliziert ist hier die Anrede G’ttes an Mosche formuliert, im Gegensatz zur sonst üblichen Einleitung »Und G’tt sprach zu Mosche wie folgt«. Diese Eigenheit, der Ansprache einen besonderen Ruf vorauszuschicken, wird von den Kommentatoren unterschiedlich erklärt.

 

Nachmanides, der Ramban (1194–1270), sieht in diesem Ruf eine Ausnahme. In den letzten Sätzen des zweiten Buches der Tora wird die Fertigstellung des Stiftszelts beschrieben: »Und die Wolke bedeckte das Stiftszelt, und die Ehre G’ttes erfüllte das Heiligtum. Und Mose konnte nicht ins Stiftszelt kommen, denn die Wolke ruhte auf ihm, und die Ehre G’ttes erfüllte das Heiligtum« (2. Buch Mose 40, 34–35). Diese besondere Situation erforderte, dass Mosche zuerst von G’tt speziell gerufen wurde, um das Stiftszelt wieder betreten und neue Mitteilungen entgegennehmen zu dürfen – daher der außergewöhnliche Ausdruck zu Beginn des Wochenabschnitts.

 

Der Midrasch Sifra ist da jedoch anderer Ansicht. Auch als G’tt Mosche zum ersten Mal erschien – am Dornbusch (2. Buch Mose 3,4) –, rief Er ihn zuerst beim Namen, bevor Er zu ihm sprach. Durch einen Vergleich der beiden Stellen beweist der Midrasch, dass G’tt Mosche vor jeder Ansprache im Stiftszelt beim Namen rief, und stets, wie beim Dornbusch, gleich zweimal: »Mosche! Mosche!« Auch reagierte der Gerufene jedes Mal so wie beim Dornbusch. Er sagte: »Hier bin ich!« und bezeugte damit seine volle Bereitschaft, den Willen G’ttes mit Hingabe zu erfüllen.

 

 

EIGENART

 

»Wenn G’tt den Menschen beim Namen ruft, so prägt dieser Ruf die Eigenart, das wahre Ich des Menschen«, erklärt Rav Kook (1865–1935). »Alle seine Wünsche, all sein Wille und Bestreben … offenbaren sich in diesem Ruf.« Mit der Antwort »Hier bin ich!« konzentriere sich der Gerufene darauf, das zu sein, was er in seinem individuellen Wesen ist, und gehe dadurch in sich, so Rav Kook weiter. Dieses In-sich-Gehen sei eindringlich und tiefschürfend, »sodass alle erhobenen Gefühle, die in der Natur des Menschen verborgen sind, spür- und fühlbar werden«.

 

Mit anderen Worten: Wenn G’tt den Menschen bei seinem individuellen Namen ruft, so fordert er ihn dazu auf, zu seiner vollständigen, wirklichen Eigenheit und zu seiner individuellen Persönlichkeit zu gelangen, bevor er die damit verbundene g’ttliche Botschaft empfängt.

 

Die Antwort »Hier bin ich!« drückt die Bereitschaft des Menschen aus, sein inneres Ich zu enthüllen: »Hier bin ich, ich selbst«, bereit, den g’ttlichen Befehl und das g’ttliche Wort entgegenzunehmen.

 

 

AWRAHAM

 

Wie Mosche wurden auch Awraham (1. Buch Mose 22,11), Jakow (46,2) und Schmuel (I. Samuel 3,10) von G’tt jeweils doppelt bei ihrem Namen gerufen. Worin besteht der Zweck dieser Nachdoppelung?

 

Der Midrasch Sifra gibt zwei Antworten: Es sei Ausdruck der Zuneigung und der Antreibung zur Eile. Eine weitere Antwort: Er war Mosche bis zu dem Zeitpunkt, da G’tt mit ihm sprach, und er blieb Mosche vom Zeitpunkt an, da G’tt mit ihm sprach. Die g’ttliche Erscheinung, die sich Mosche wie sonst keinem Menschen offenbarte, machte ihn zu einem anderen Menschen, einem heiligen Engel, einem »Mann G’ttes« (5. Buch Mose 33,1).

 

Maimonides, der Rambam (1135–1204), schreibt: Mosches »Verstand verband sich mit G’tt, die Pracht entfernte sich nicht mehr von ihm; die Haut seines Gesichts strahlte, er war geheiligt wie die Engel« (Hilchot Jesode HaTora 7,6). Und trotzdem blieb Mosche derselbe Mosche, der er vor dem g’ttlichen Ruf war: Er erhob sich nicht über andere und hielt sich nicht für einen anderen Menschen. Dies zeugt von Mosches großer Bescheidenheit.

 

Sein g’ttlicher Auftrag war das jüdische Volk. Mit dessen Schicksal war sein eigenes vollkommen verstrickt, mit ihm war seine ganze Person bis ins Innerste verbunden und identifizierte sich vollständig damit (2. Buch Mose 32,32), bevor G’tt ihm erschien (2, 11–12) und erst recht danach. Denn seine Persönlichkeit war echt und unverfälscht – er war eben Mosche.

 

 

Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Aachen und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD).

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