Durststrecke
Die Reise der Israeliten durch die Wüste spiegelt die Geschichte des Lebens eines jeden Menschen wider.
Die Reise der Israeliten durch die Wüste spiegelt die Geschichte des Lebens eines jeden Menschen wider.
Dies sind die Reisen der Kinder Israels, die aus dem Land Ägypten hinausgingen (…). Mosche zeichnete ihre Reisen und Feldlager auf Befehl G’ttes auf« (4. Buch Mose 33, 1–2). So beginnt der Wochenabschnitt Mass’ej.
Der Midrasch vergleicht die Anweisung G’ttes an Mosche, die 42 Stationen der Reise des Volkes aus Ägypten durch die Wüste bis an die Grenze des Gelobten Landes aufzuzeichnen, mit der Geschichte eines Königs, der mit seinem kranken Kind eine Reise unternimmt, um Heilung für das Kind zu suchen. Auf dem Rückweg erinnert der König sein Kind: Hier haben wir geschlafen, hier haben wir uns erfrischt, hier hat dein Kopf wehgetan.
Welches Ziel hatte G’tt vor Augen, als er Mosche anwies, die gesamte Reise der Israeliten zu erzählen, um sich an all die Orte zu erinnern, an denen sie sich nicht wohlfühlten?
REIFE
Der Auszug aus Ägypten markiert die Geburt unseres Volkes und unser Eintritt in das Land Israel die Erlangung unserer nationalen und spirituellen Reife. In der Zeit dazwischen mussten wir eine 40-jährige Reise durch die große und Furcht einflößende Wüste durchstehen.
Diese Reise hatte 42 Stationen. Manche, wie der einjährige Aufenthalt am Berg Sinai, waren Momente großartiger Offenbarungen. Die meisten aber waren begleitet von Zweifel, Ärger, Betrug und dem fortdauernden Wettbewerb zwischen den Menschen und G’tt. Am Ende führte alles dazu, dass sie das »gute und weite Land« erlangten.
In diesem Sinne spiegelt die Reise der Israeliten durch die Wüste die Geschichte des Lebens eines jeden Menschen wider. Wenn wir geboren werden, verlassen wir den schmalen Pfad – Mizrajim bedeutet schmale Pfade –, den mütterlichen Schoß, und beginnen eine Reise durch die Wüste.
Die Geschichte der Menschheit ist die Geschichte einer Reise durch eine große und Furcht einflößende Wüste, voller physischer und spiritueller Gefahren und ohne Wasser, das die dürstende Seele der Menschen stillt. Am Ende allerdings, trotz all dem Ärger und der Beschwerlichkeiten, werden wir unser Ziel, ein »Gelobtes Land«, erreichen.
Dies ist die tiefere Bedeutung der »Rückreise« des Königs und seines Kindes in der oben zitierten Parabel aus dem Midrasch. Es stimmt, anders als die Reise des Königs war die Reise der Israeliten One-Way. Aber am Vorabend ihres Eintritts ins Heilige Land waren sie in der Lage, auf ihre 42 Feldlager zurückzublicken und sie in einem anderen Licht noch einmal zu durchleben – nicht als Volk, das sich mit unbekanntem Ziel durch eine beängstigende Wildnis aus der ägyptischen Sklaverei hinausgewagt hatte, sondern als ein Volk, das sein Ziel erreicht hatte und nun jede Station seiner Reise als Identität stiftenden Teil zu schätzen weiß.
Dasselbe gilt für die Geschichte der Menschen. In jedem Stadium unseres Lebens, wenn wir uns durch die Wüste zu unserem eigenen Gelobten Land kämpfen, können auch wir auf all die Stationen unseres Lebens zurückblicken und sie wirklich wahrnehmen: als Herausforderungen und Gelegenheiten, die unseren Weg festigten auf unserem Fortschreiten durch die Wüste. Statt sie wie zu Beginn als Fallgruben und Hindernisse zu betrachten, können wir sie als Sprossen einer Leiter wahrnehmen, die uns auf dieses Plateau geführt haben.
BIRNBAUM
Es war einmal ein Mann, der hatte vier Söhne. Er wollte, dass sie lernten, die Dinge nicht zu schnell zu beurteilen. Also stellte er ihnen die Aufgabe, sich nacheinander aus weiter Entfernung einen Birnbaum anzuschauen.
Der erste Sohn ging im Winter los, der zweite im Frühling, der dritte im Sommer, und der Jüngste zog im Herbst los. Als sie alle zurückgekehrt waren, bat er sie, ihm zu erzählen, was sie gesehen hatten.
Der erste Sohn sagte, der Baum sei hässlich, krumm und verdreht. Der zweite entgegnete: »Nein, er ist voller grüner Knospen.« Der dritte Sohn war wieder anderer Meinung – der Baum sei voller Blüten gewesen, die einen süßen Duft verströmten und wunderschön aussahen. Auch der letzte Sohn widersprach. Er meinte, der Baum sei voller reifer Früchte gewesen, voller Leben und Erfüllung.
Daraufhin erklärte der Mann seinen Söhnen, sie hätten alle recht. Man dürfe einen Baum oder eine Person nicht nur anhand einer Jahreszeit beurteilen. Die Essenz dessen, was sie sind, sowie die Freude, das Vergnügen und die Liebe, die aus diesem Leben hervorkommen, können nur am Ende gemessen werden, wenn alle Jahreszeiten vorbei sind.
Wenn man im Winter aufgibt, dann wird man das Versprechen des Frühlings verpassen sowie die Schönheit des Sommers und die Erfüllung des Herbstes. Man darf das Leben nicht anhand einer schwierigen Zeit beurteilen, sondern man muss die schwierigen Momente durchstehen, und sicherlich werden die besseren Zeiten irgendwann kommen und sogar die Herausforderungen der Vergangenheit in einem anderen Licht erscheinen lassen.
SPRICHWORT
Ein altes Sprichwort sagt: Strebe danach, zu inspirieren, bevor du erlischst. Glück hält dich süß. Schwierigkeiten machen dich stark. Sorgen machen dich menschlich. Misserfolge machen dich bescheiden. Erfolg lässt dich erstrahlen. Aber nur G’tt hält dich am Laufen.
Auf Mosches Bitte »Zeige mir Deine Herrlichkeit« antwortet G’tt: »Du wirst Meinen Rücken sehen, aber nicht Mein Gesicht«. Der Chatam Sofer, Rabbi Mosche Sofer (1762–1839), bezieht sich in seiner Auslegung dazu auf unsere Weisen: Der Talmud erklärt, schreibt er, dass Mosche hier die uralte Frage stellt, warum es rechtschaffene Menschen gibt, die leiden, und böse Menschen, die im Wohlstand leben. Der Allmächtige antwortete ihm darauf: »Du wirst Meinen Rücken sehen, aber mein Gesicht darf nicht gesehen werden.« Will sagen: »Im Leben wirst du Mich nicht vor dir sehen können, nur hinter dir.«
Das Leben kann man also nicht im Voraus wertschätzen, sondern nur im Rückblick. Nur wenn man seine Wege gegangen ist, kann man sich manchmal umschauen und sagen: Ah, jetzt sehe ich, was für ein wichtiger Schritt dieses bestimmte Feldlager in meiner Erzählung war.
TRAINING
Wenn ich zu einem Trainer gehe, um meinen Körper in Form zu bringen, oder zu einem Psychologen, um meine Seele zu stärken, so verlangt jeder Erfolg Schweiß, Blut und manchmal auch Tränen. Wenn man mitten in der schweren Arbeit steckt, mag man das Ergebnis zwar erahnen, aber man fühlt vor allem die Mühe. Doch wenn die Reise zu Ende ist und man zurückschaut, sieht man alles als unabdingbaren Teil des Ziels und kann jede Erfahrung, die einem Qualen bereitet hat, als Schritt zum Bewusstsein und zur Befreiung betrachten.
Der amerikanische Unternehmer Steve Jobs hat einmal gesagt: »Man kann die Punkte nicht miteinander verbinden, wenn man nach vorne schaut, sondern nur, wenn man zurückschaut. Man muss also das Vertrauen haben, dass die Punkte sich in der Zukunft irgendwie miteinander verbinden werden. Man muss auf etwas vertrauen – auf seinen Schneid, sein Schicksal, sein Leben, Karma, was auch immer. Diese Herangehensweise hat mich nie im Stich gelassen und in meinem Leben den großen Unterschied gemacht.«
Wir können also im Leben nicht immer den Weg sehen, aber wir müssen wissen, dass es einen Weg gibt. Und eines Tages werden wir zurückschauen können und sagen: »Ah, was für ein kreativer Weg!«
Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. Dieser Artikel erschien in der Jüdischen Allgemeinen.
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