In Zweifeln gefangen
Noach glaubte zwar an G’tt, aber nicht an sich selbst. Das war sein Problem.
Noach glaubte zwar an G’tt, aber nicht an sich selbst. Das war sein Problem.
Seit Jahrhunderten sind Kommentatoren darüber verwundert, dass die Tora im Abschnitt dieser Woche sagt: »Und Noach ging (…) in die Arche wegen des Hochwassers« (1. Buch Mose 7,7). Die Rabbinen, immer sehr empfindlich für Nuancen, verwirrten diese scheinbar überflüssigen Worte – »wegen des Hochwassers«. Warum musste man das Offensichtliche wiederholen?
Der Midrasch sagt, Noach gehörte zu denen, deren Glauben schwach war. Er stieg erst dann auf die Arche, als das Wasser ihn dazu zwang. Dieser Kommentar ist schwer verdaulich.
Unser Wochenabschnitt beginnt mit der Beschreibung: »Noach war ein rechtschaffener Mann in seinen Zeiten, mit G’tt wandelte Noach« (1. Buch Mose 6,9). Wie konnte man Noach dann als Mann mit schwachem Glauben beschreiben, der G’ttes Versprechen anzweifelte? Zudem ist er ein Mann, zu dem G’tt spricht. Hat man je davon gehört, dass ein Agnostiker mit G’tt Gespräche führt?
Der berühmte chassidische Meister Rabbi Levi Jizchak von Berditschew (1740–1809) hat auf diese Frage eine wunderbare Antwort gegeben. Er erklärt, dass Noach vollkommen an G’tt glaubte – G’tt spricht mit ihm, Noach gehorcht Ihm –, aber: Noach hatte wenig Glauben an sich selbst. Er sah sich als kleinen, unbedeutenden Menschen, der nur wenig Potenzial hat, in unserer Welt etwas Bedeutendes zu erreichen
Noachs Problem bestand darin, dass er zu bescheiden war. Er ist der erste Mensch in der biblischen Geschichte, dessen Problem nicht der Glaube an G’tt, sondern der Glaube an sich selbst ist. Er erkennt nicht, wer er ist und welche Möglichkeiten er hat.
BESCHEIDENHEIT
So unterließ es Noach zum Beispiel, für seine Generation zu beten. Das tat er nicht, weil er egoistisch war, sagt der Berditschewer. Nein! Noach betete nicht für die Welt, weil er nicht daran glaubte, in der Lage zu sein, G’ttes Beschluss zu verändern. Er dachte: Wer bin ich, dass ich G’tt sage, was zu tun ist? Wie kann ich so eine Chuzpa an den Tag legen, G’tt vorzuschlagen, Seine Pläne zu ändern?
Dies war Noachs Fehler. Er erkannte nicht die Tatsache, dass G’tt den Menschen als Partner erschaffen hat, dass es eine dynamische, intime Beziehung zwischen dem Menschen und G’tt gibt, dass G’tt Einfluss auf uns hat, aber auch wir Einfluss auf Ihn haben. Noach erkannte nicht, dass ein Mensch den Funken der Unendlichkeit in sich trägt und sein Gebet selbst den Himmel bewegen kann.
Nun verstehen wir die Worte des Midraschs über Noachs geringen Glauben. Da er sich als kleine Person wahrnahm, konnte er nicht wirklich glauben, dass er es mehr verdiente, gerettet zu werden, als andere Menschen.
Das ist das Wesen der Selbsterniedrigung: Man glaubt nicht an das eigene Potenzial. Und sogar, wenn man für eine Mission auserwählt wurde, zweifelt man weiterhin daran.
Dieser Kommentar lehrt uns eine außerordentliche Lektion: Es ist nicht unbedingt der fehlende Glaube an G’tt, der eine Welt zerstört. Manchmal ist es der fehlende Glaube an sich selbst, der ein Universum in Trümmer legen kann.
ROCKEFELLER
Man erzählt sich die Geschichte eines Geschäftsführers, der tief verschuldet war. Er saß auf einer Parkbank, hatte den Kopf in seine Hände gelegt und überlegte, ob es irgendeinen Weg gäbe, seine Firma vor dem Bankrott zu retten. Plötzlich erschien ein alter Mann. »Ich sehe, dass Sie in Sorge sind«, sagte er.
Nachdem er sich die Sorgen des Geschäftsführers angehört hatte, sagte der alte Mann: »Ich glaube, ich kann Ihnen helfen.« Er fragte den Mann nach seinem Namen, füllte einen Scheck aus und überreichte ihn. »Nehmen Sie das Geld. Wir sehen uns genau hier in einem Jahr wieder. Dann können Sie mir das Geld zurückgeben.« Dann drehte er sich um und war verschwunden.
Der Geschäftsführer blickte auf den Scheck in seiner Hand und las: 500.000 Dollar, unterschrieben von John D. Rockefeller, einem der reichsten Männer der Welt!
»All meine Geldsorgen könnten mit einem Schlag verschwinden«, erkannte der Mann. Doch er löste den Scheck nicht ein, sondern legte ihn in seinen Safe. Das Wissen, dass der Scheck da war, könne ihm die Kraft geben, einen Weg zu finden, seine Firma zu retten, dachte er.
Und so geschah es: Mit neuem Optimismus verhandelte er bessere Deals und schloss mehrere große Geschäfte ab. Nach einigen Monaten war er schuldenfrei und verdiente wieder Geld.
Genau ein Jahr später kam er mit dem nicht eingelösten Scheck zurück in den Park. Zur vereinbarten Zeit erschien der alte Mann. Aber gerade als der Geschäftsführer ihm den Scheck zurückgeben und ihm von seiner Erfolgsgeschichte erzählen wollte, kam eine Krankenschwester angerannt und ergriff den alten Mann.
»Ich bin so froh, dass ich ihn gefunden habe!«, rief sie und zog ihn weg. »Ich hoffe, er hat Sie nicht belästigt. Er rennt immer wieder weg aus dem Pflegeheim und erzählt, er sei Rockefeller.«
Der Geschäftsführer war baff. Das ganze Jahr über hatte er sich bemüht und verhandelt, gekauft und verkauft, in der Überzeugung, eine halbe Million Dollar in Reserve zu haben. Doch in Wahrheit war der Scheck absolut wertlos.
Plötzlich wurde dem Geschäftsführer klar, dass es nicht das Geld gewesen war, das sein Leben verändert hatte, sondern sein neu gefundenes Selbstbewusstsein. Das hatte ihm die Kraft zurückgegeben, alles zu erreichen, was er sich vorgenommen hatte.
WERTSCHÄTZUNG
Man muss an sich glauben. Dies gilt für jeden von uns. »Wenn man sich selbst geringschätzt, dann wird auch die Welt den Wert nicht erhöhen«, sagte einmal ein weiser Mann.
Und ein anderer weiser Mann, der französische Insektenforscher Antoine Magnan, meinte: »Aerodynamisch gesehen, sollte die Hummel gar nicht fliegen können. Aber sie weiß es nicht – und fliegt einfach weiter.«
Das ist die Schlüsselbotschaft fürs Leben: Der wahre Glaube an G’tt muss uns zu einem tieferen Glauben an uns selbst führen. Denn wenn uns der Glaube an uns selbst fehlt, dann erniedrigen wir nicht uns selbst, sondern G’tt, der uns nach seinem Bild erschaffen hat, der an uns glaubt und der jeden von uns braucht, damit wir Seine Partner sind.
Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. Dieser Artikel erschien in der Jüdischen Allgemeinen.
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