Erinnerung an den Tempel
Warum in der Tora die Gebote der Nachlese mitten in der Auflistung der Feiertage stehen ...
Warum in der Tora die Gebote der Nachlese mitten in der Auflistung der Feiertage stehen
Paraschat Emor ist reich an Geboten. Im gesamten 3. Buch Mose gibt es keinen anderen Abschnitt, der mehr Gebote enthält. Doch trotz der vielen Gebote – es sind sage und schreibe 63 – besteht der Abschnitt nur aus zwei zentralen Teilen. Im ersten wird der besondere Status der Priester beschrieben, ihre Pflichten und Rechte, aber auch gewisse Einschränkungen im Vergleich zu den anderen Israeliten. Im zweiten Teil berichtet die Tora über die Feiertage, angefangen vom Schabbat bis hin zu Pessach und Sukkot.
Mitten in der Auflistung der Feiertage steht ein Vers, der auf den ersten Blick fehl am Platz zu sein scheint. Genau zwischen Schawuot und Rosch Haschana wird die Aufzählung der Feiertage durch eine besondere Mizwa unterbrochen: »Und wenn ihr den Schnitt eures Landes schneidet, so sollst du das Ende deines Feldes nicht vollends abmähen bei deinem Schnitt, und die Nachlese deines Schnittes sollst du nicht auflesen. Dem Armen und dem Fremdling sollst du sie überlassen; Ich bin der Ewige, euer G’tt!« (3. Buch Mose 23,22).
ARME
Die sonst so nützlichen Kommentare von Raschi (1040–1105) sorgen an der Stelle eher für noch mehr Verwirrung. So zitiert Raschi Rabbi Abdimi, den Sohn von Rabbi Josef. Dieser sagte, die Tora habe diese Gebote nur deshalb zwischen Schawuot und Rosch Haschana gestellt, weil sie lehren will: Wer die Nachlese, also die Ernte dessen, was auf dem Feld übrig geblieben ist, pflichtgemäß den Armen hinterlässt, dem wird dies so angerechnet, als hätte er den Tempel erbaut und darin Opfer gebracht. Viele bedeutende Gelehrte versuchen dem allen eine Erklärung zu geben. Vor allem die Äußerung von Rabbi Abdimi bedarf einer Erläuterung.
Der Lutzker Rav, Rabbiner Salman Sorotzkin (1881–1966), schreibt, die Gebote der Nachlese würden von der Tora mit Absicht gerade vor Rosch Haschana erwähnt, weil sie allen nochmals in Erinnerung rufen sollen, dass Zedaka ein schlechtes Urteil für das nächste Jahr abwenden kann.
Der Rokeach, Rabbiner Eleasar Ben Jehuda (1165–1238), vertritt die Ansicht, dass diese Gebote sich nicht auf Rosch Haschana, sondern auf Schawuot beziehen. Einer der Gründe, warum Schawuot nicht wie Pessach oder Sukkot eine Woche dauert, ist, dass das Getreide in der Zeit des Schawuotfestes reift und geschnitten werden muss.
So erklärt sich auch der Brauch, warum das Buch Ruth ausgerechnet an Schawuot gelesen wird. Es war nämlich die Zeit um Schawuot, als die mittellose Ruth auf Geheiß ihrer Schwiegermutter auf dem Feld von Boas die Nachlese mit anderen Armen sammelte. Dort wurde Boas auf sie aufmerksam und heiratete sie schließlich.
Aus dieser Ehe ging Oved hervor, der Großvater des späteren Königs David. Aus der Überlieferung wissen wir, dass König David am Schawuotfest auf die Welt kam und 70 Jahre später auch an einem Schawuotfest starb. Außerdem ist bekannt, dass der Maschiach ein Nachkomme von König David sein wird.
SEDERNACHT
Andere Weise wiederum, unter ihnen auch Rabbiner Shimon Schwab (1908–1995), konzentrieren sich auf den Kommentar von Raschi und wagen den Versuch, die Äußerung Rabbi Abdimis zu erklären. Dabei behalten sie die Tatsache im Auge, dass die Gebote vom Vergessenen, der Ecke des Feldes und der Nachlese nicht umsonst in der Auflistung der Feiertage geschrieben stehen.
Zum besseren Verständnis, aber auch, um Rabbi Abdimis Vergleich der Nachlese mit dem Tempelbau und der Darbringung von Opfern zu berücksichtigen, rufen uns die Weisen die Sedernacht in Erinnerung. Denn dort sprechen wir eine wichtige Fürbitte, unmittelbar bevor der zweite Becher Wein getrunken wird: »So lass uns, Ewiger, unser König und König unserer Väter, andere Festzeiten und Feiertage erleben, die uns zum Frieden bringen werden, in Freude am Aufbau Deiner Stadt und frohlockend in Deinem Dienst.«
Wenn wir den Ewigen bitten, dass wir auch andere Feiertage erleben dürfen, heißt das, es gibt noch weitere Feiertage, die wir noch nicht gefeiert haben.
In der Tat befinden sich in den Büchern der Propheten tröstende Worte des Ewigen an Sein Volk, die uns andere Feiertage verheißen, sogar mit Angabe des genauen Datums. So lesen wir in Secharja 8,19: »So spricht der Ewige der Scharen: Das Fasten des vierten und das Fasten des fünften (…) wird dem Haus Jehuda zur Wonne, zur Freude und zu fröhlichen Festen werden.«
KALENDER
Um die genauen Daten nachvollziehen zu können, muss man die Reihenfolge der Monate in biblischer Zeit beachten, als das Jahr mit dem Monat Nissan begann und mit dem Adar endete. So ist der erwähnte vierte Monat beim Propheten der Monat Tamus, und gemeint ist der 17. Tamus. Aw ist der fünfte Monat – und das prophezeite Fest wird am 9. Aw stattfinden.
Jetzt können wir nachvollziehen, warum Raschi hier Rabbi Abdimi zitiert, denn die Tora weist uns darauf hin, dass in die Aufzählung der Feiertage noch weitere, andere Feste gehören: der 17. Tamus und der 9. Aw.
Genau diese künftigen Feste kommen gleich nach Schawuot, aber noch vor Rosch Haschana. Und diese beiden zurzeit noch Fasten-, doch in der Zukunft Feiertage haben direkten Bezug zu der Fürbitte, die beim Seder gesprochen wird.
Am 9. Aw trauern wir um die Zerstörung Jerusalems und des Tempels, und in der Fürbitte bitten wir um den Aufbau der Stadt des Ewigen, Jeruschalajim. Einer der Gründe, warum am 17. Tamus gefastet wird, ist laut Mischna, dass der tägliche G’ttesdienst im Tempel aufhörte, denn wegen der Belagerung der Stadt gab es keine Tiere mehr für das Opfer (Taanit 4,6).
MASCHIACH
Jetzt kann leicht nachvollzogen werden, warum die Gebote der Nachlese in der Tora ausgerechnet an dieser Stelle erwähnt wurden: Denn weil Boas die Nachlese den Armen überließ, konnte David auf die Welt kommen. Und ein Nachfahre Davids wird der Maschiach sein. Wenn dieser kommt, wird nach der Überlieferung unter anderem der Tempel wieder errichtet, und der G’ttesdienst wird wieder stattfinden.
Die Zerstörung Jeruschalajims wird in Micha 3,12 wie folgt beschrieben: »Darum wird euretwegen Zion als Feld gepflügt.« Mit der Zerstörung des Zweiten Tempels gelten auch wir als arm, denn ohne Tempel können wir die meisten der 613 Gebote nicht erfüllen. Doch der Ewige sorgte dafür, dass uns eine »Ecke des Feldes« zur Erinnerung bleibt, damit wir nicht vergessen und weiter für andere künftige Feste beten – an der Westmauer in Jeruschalajim.
Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Kultusgemeinde Groß-Dortmund und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz. Dieser Artikel erschien in der Jüdischen Allgemeinen.
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