Wer zuerst kommt
Die Tora lehrt, dass jedem die Welt offensteht – auch den Jüngeren ...
Die Tora lehrt, dass jedem die Welt offensteht – auch den Jüngeren
Nasso ist der zweite Wochenabschnitt im 4. Buch Mose, das Bamidbar heißt. Das Volk Israel befindet sich zu diesem Zeitpunkt in der Wüste. Nasso und der vorangegangene Abschnitt beschäftigen sich mit den Aufgaben und Pflichten der Stämme. Zum Beispiel gehen sie den Fragen nach, in welcher Reihenfolge und Ordnung das Volk wandern und lagern sollte.
Der Stamm Levi war für den Auf- und Abbau des Stiftszelts zuständig. Da die Wanderung 40 Jahre dauerte, musste das Stiftszelt überall dort, wo das Volk rastete, aufgebaut und bei der Weiterwanderung wieder abgebaut werden.
BUNDESLADE
Im 4. Buch Mose 3,17 lesen wir: »Dies waren die Namen der Söhne Levis: Gerschon, Kehat und Merari.« Die Aufzählung entspricht der Reihenfolge, in der sie geboren wurden. Jeder der drei hatte eine Aufgabe im Bereich des Stiftszelts zu erfüllen. Gerschon, der Erstgeborene, spielte interessanterweise nur eine Nebenrolle. Anders der Zweitgeborene Kehat. Er und seine Nachkommen hatten »auf die Lade zu achten« (3,31), ihnen »oblag die Arbeit bei den heiligen Dingen« (7,9).
Kehats Aufgabe hatte viel mehr Gewicht, obwohl er nicht der Erstgeborene war. Warum wurde die wichtige Aufgabe nicht Gerschon übertragen? Schließlich hat doch, wie wir wissen, oft der Erstgeborene einen höheren Stellenwert als die jüngeren Geschwister: Der Vater »muss den Erstgeborenen anerkennen, ihm einen doppelten Anteil an allem geben, was sich bei ihm (dem Vater) vorfindet, denn er ist der Erstling seiner Stärke, ihm kommt das Erstgeburtsrecht zu« (5. Buch Mose 21,17). Warum aber wurde hier der Zweitgeborene, Kehat, gewählt?
FÜHRUNG
In den Geschichten der Tora finden sich oft nicht die Erstgeborenen in Führungspositionen, sondern ihre jüngeren Geschwister. So war es auch bei Kain und Hewel. Im 1. Buch Mose 4,1 steht: »Der Mensch hatte seiner Frau Chawa beigewohnt; und sie wurde schwanger und gebar Kain.« Im darauffolgenden Vers lesen wir: »Und dann gebar sie seinen Bruder Hewel.« Hieraus entnehmen wir die Reihenfolge, Kain war der Erstgeborene. Weiter im Vers 4: »Da wandte sich der Ewige Hewel zu und seiner Gabe.« Wie bekannt, wurde Hewel von seinem Bruder Kain ermordet. G’tt mochte Hewel aufgrund seiner guten Taten mehr als Kain. Ähnlich ist es bei Jizchak und Jischmael. Der war der Erstgeborene, doch G’tt übergab dem Zweitgeborenen Jizchak die Führung und ließ aus ihm das Volk Israel entstehen.
Über Jizchaks Frau Riwka lesen wir im 1. Buch Mose 25, 25–26: »Als nun ihre Zeit kam zu gebären, siehe, da waren Zwillinge in ihrem Leib. Und der erste kam heraus, rötlich, am ganzen Körper wie ein haariger Mantel, und sie nannten ihn Esaw. Dann kam ein Bruder heraus, der mit der Hand Esaws Ferse hielt, und man nannte ihn Jakow.« Auch hier übernahm später nicht der Erstgeborene, sondern der Zweitgeborene Jakow die Führung.
Die Kinder Jakows sind die zwölf Stämme Israels, wobei Ruwen der erste Sohn und Josef ein weitaus jüngeres Kind war. Trotzdem wurde Josef später zu einem Anführer.
Über seine beiden Söhne lesen wir im 1. Buch Mose 48, 17–19: »Als Josef sah, wie sein Vater seine rechte Hand auf das Haupt Ephraims legte, da missfiel es ihm. Er fasste die Hand seines Vaters, um sie von Ephraims Haupt auf das Haupt Menasches zu legen, und Josef sprach zu seinem Vater: ›Nicht so, mein Vater! Dieser ist der Erstgeborene, lege deine Rechte auf sein Haupt!‹ Sein Vater aber weigerte sich und sprach: ›Ich weiß, mein Sohn, ich weiß! Auch er wird zu einem Volk werden, auch er wird groß sein. Doch sein jüngerer Bruder wird größer sein als er, und seine Nachkommen werden zu einer Fülle von Völkern‹.«
Ähnlich war es auch bei den Brüdern Aharon und Mosche: Mosche, der Zweitgeborene, wurde zum Anführer des Volkes Israel und brachte es aus Ägypten hinaus.
STELLENWERT
Wir entnehmen der Tora, dass der Erstgeborene zum Beispiel im Erbrecht einen höheren Stellenwert besitzt. Er hat dies ohne eigenes Zutun erreicht. Bei der Besetzung einer Führungsposition zählt jedoch nicht die Geburtsreihenfolge, sondern entscheidend sind die Taten und die Qualität des Menschen. Persönlichkeit, Moral und Führungskompetenz werden niemandem in die Wiege gelegt. Diese Qualitäten muss man sich erarbeiten, man muss sich in der Gesellschaft behaupten.
Kehats Aufgabe war es, die Bundeslade zu transportieren. Wenn Gerschon diese Aufgabe erhalten hätte, dann hätten die Menschen geglaubt, sie sei ihm nur deshalb zugefallen, weil er der Erstgeborene ist, und nicht wegen seiner Qualitäten.
Mit dem Transport der Bundeslade wies Kehat nicht nur den Weg, sondern auch die Richtung, in die es gehen sollte. Dies bedurfte eines hohen moralischen Niveaus, das Kehat hatte. Das heißt jedoch nicht, dass Gerschon weniger niveauvoll war. Vielleicht wäre er für diese Mission auch geeignet gewesen. In der Tora gibt es darauf keinen Hinweis. Es sollte aber vermieden werden, dass die Menschen denken, er sei nur deshalb ausgewählt worden, weil er der Erstgeborene ist.
Maimonides schrieb in seinem Werk Mischne Tora (Kapitel 3, 1–2), dass es drei Kronen gibt: die Krone des Priesters, die königliche Krone und die Krone der Tora. Die Krone des Priesters und die des Königs beruhen auf der Erbfolge. Die Kronen des Priesters und des Königs mögen wichtig sein. Aber über allem steht die Krone der Tora, die uns sagt, dass jeder von uns durch Arbeit an seiner Persönlichkeit ohne Privilegien sein Ziel erreichen kann. Der Weg zur Krone der Tora steht uns allen durch das Lernen offen.
Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Duisburg – Mülheim – Oberhausen und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD). Dieser Artikel erschien in der Jüdischen Allgemeinen.
Sagen Sie uns Ihre Meinung!
Danke fuer Ihre Antwort!
Ihr Kommentar wird nach der Genehmigung veroeffentlicht.