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Einsatz fürs Land – Schon die Tora kennt weibliche Führungspersönlichkeiten ...

4 Min.

Rabbiner Benjamin Kochan

gepostet auf 14.03.21

Einsatz fürs Land – Schon die Tora kennt weibliche Führungspersönlichkeiten

 

Oft hört man als Antwort auf die Frage, was die Tora sei, es handele sich »um so ein Geschichtsbuch«. Und dann wird erzählt, wie Gott am Anfang die Welt und die Menschheit erschuf, wie der Ewige die Flut auf die Erde brachte und wie Noach, seine Familie und alle Tiere auf der Arche die Flut überlebten. Erzählt wird von Awraham und den zehn Prüfungen, vor die Gott ihn stellte, bevor er zum Vorvater des jüdischen Volkes wurde. Von dessen Nachkommen wird berichtet, die wegen einer Hungersnot nach Ägypten auswanderten und dort zu einem großen Volk wurden.

 

Dann wird die Versklavung dieses Volkes beschrieben, und wie Gott zehn Plagen sandte, damit die Kinder Awrahams unter Mosches Führung Ägypten verlassen konnten. In der Wüste Sinai empfingen sie schließlich die Tora mit all ihren Ge‐ und Verboten, und dadurch wurden sie zum auserwählten Volk. Nach 40 Jahren Wüstenwanderung, wo der Ewige sie durch Wunder ernährte und vor allen Schwierigkeiten beschützte, zogen sie letzten Endes in das Land Israel ein. Die Geschichte endet dann mit der Eroberung dieses Landes unter der Führung von Jehoschua, Mosches Nachfolger.

 

 

ZEITLOS

 

Was sollen uns diese Fakten mitteilen? Handelt es sich bei der Tora nur um ein geschichtliches Werk? Oder ist es mit all seinen Ge‐ und Verboten ein juristischer Text? Man muss verstehen, dass die Tora nicht nur eine Chronik von der Erschaffung unseres Planeten ist, nicht nur die Darstellung der Geschichte des jüdischen Volkes und seiner Stellung in der Gemeinschaft der Völker dieser Erde.

 

Es ist nicht nur ein Werk gefüllt mit Fakten, Wissen und Informationen, sondern auch mit zeitlosen Botschaften. Unsere Weisen entschlüsseln und deuten diese Botschaften seit Generationen auf der Basis der überlieferten Tradition und ihrer Gelehrsamkeit.

 

Eine der Botschaften steht am Anfang unseres Wochenabschnitts Schemot. Dort wird von zwei Heldinnen berichtet, die das Leben vieler Säuglinge retteten, obwohl Pharao befohlen hatte, diese zu töten. Für ihre Heldentaten und die sich darin widerspiegelnde Erfurcht vor dem Ewigen wurden die beiden Frauen von Gott mit »batim«, mit Häusern, belohnt. Gemeint sind damit laut dem Kommentar von Raschi (1040–1105) nicht etwa Gebäude, sondern Dynastien von Priestern, Leviten und Königen.

 

Interessanterweise verheimlicht uns die Tora die wahren Namen dieser beiden Frauen und nennt sie nur Schifra und Pua. Raschi erklärt, dass Schifra keine andere war als Jocheved, die Mutter von Mosche, und Pua seine Schwester Mirjam. Jocheved wurde Schifra genannt, eine Ableitung des Wortes »mischaper« – verschönern –, da sie es war, die die Säuglinge nach ihrer Geburt pflegte. Mirjam wurde Pua genannt, was »laut rufen« bedeutet. Sie war es, die den Kindern zurief, mit ihnen sprach und sie beruhigte, wenn sie weinten.

 

Aber wieso nennt die Tora nicht ihre echten Namen? Laut Rav Shimshon Dovid Pinkus (1944–2001) verwendet die Tora die Namen Schifra und Pua, um im Besonderen die geistigen und sittlichen Eigenschaften der beiden zu betonen.

 

 

MUTTERLIEBE

 

Stellen Sie sich vor, ein Kind liegt im Krankenhaus, und viele Ärzte versuchen, ihm das Leben zu retten. Seine Mutter jedoch wendet sich dem Kind mit Liebe zu. Selbstverständlich sind die Ärzte damit beschäftigt, das Kind medizinisch zu versorgen und haben keine Zeit, sich um Kleinigkeiten zu kümmern. Die Mutter mit ihrer Liebe sorgt aber auch für die scheinbar unwesentlichen Dinge, die für das Kind jedoch so wichtig sind.

 

Jocheved und Mirjam wurden für diese Verdienste damit belohnt, dass sie Mütter von Priester‐ und Führerdynastien wurden. Wir fragen uns, warum dies geschah und wodurch sich jüdische Führer auszeichnen. Die Tora benutzt häufig den Begriff »nesi’im« (Anführer) im Zusammenhang mit den Oberhäuptern der zwölf Stämme. Außerdem verwendet die Tora diese Bezeichnung für die Könige des jüdischen Volkes. Interessanterweise wird das Wort »nesi’im« gleichermaßen für die Wolken am Himmel verwendet.

 

Rabbiner Samson Raphael Hirsch (1808–1888) erklärt dazu, dass Wolken durch das Aufsaugen von Flüssigkeit entstehen. Sie behalten diese Flüssigkeit jedoch nicht lange, sondern geben sie in Form von Regen wieder ab. Vergleichbar ist dies mit einem jüdischen Anführer.

 

Das Volk gibt ihm seine Macht und verhilft ihm zu seinem Vermögen. Er behält dies jedoch nicht für sich selbst, sondern nutzt seine Stellung und die ihm zur Verfügung stehenden Reichtümer, um dem Volk Gutes zu tun. Das Ideal eines jüdischen Anführers zeichnet also aus, dass er sich um sein Volk kümmert und danach strebt, eine enge Beziehung zu ihm aufzubauen.

 

 

BINDUNG

 

In unserer Parascha sind es Jocheved und Mirjam, die eine enge Bindung zu jedem der von ihnen geretteten Kinder aufbauen. Sie sichern nicht nur das bloße Überleben der Kinder, indem sie sie vor der Verfolgung des Pharao schützen, sondern wenden sich vielmehr auch den scheinbar unwesentlichen Details zu, die das Leben eines Kindes betreffen.

 

Die beiden Frauen zeigen damit Charaktereigenschaften, die eine ideale Führungspersönlichkeit auszeichnen. Aus diesem Grund werden sie die Mütter der zukünftigen Anführer des Volkes Israel. Ihre Charakterzüge sollen an ihre Nachfahren vererbt werden und sie zu guten Anführern machen.

 

Der Wochenabschnitt schildert uns die Eigenschaften, die Menschen haben sollten, die eine Position als Staatsführer, Klassensprecher oder Gemeindevorsitzender anstreben. Genau aus diesem Grund gibt es so viele faszinierende Geschichten von großen Gelehrten und jüdischen Anführern, die ihren Mitmenschen selbstlos geholfen haben.

 

Eine dieser Geschichten handelt von Awraham Yishayahu Karelitz (1878–1953), der durch sein Hauptwerk Chazon Ish bekannt geworden ist. Obwohl er Oberrabbiner des Ortes Koiden in Israel war, fand er Zeit, den einfachen Schmied Jankele zu besuchen, um zu helfen, dessen Familienfrieden wiederherzustellen. Geschichten wie diese zeigen, dass wahre Führungspersönlichkeit ausmacht, sich mit vollem Herzen dem Wohl der gesamten Gemeinschaft sowie jedem einzelnen Individuum zu widmen.

 

 

Der Autor ist Rabbiner und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD). Dieser Artikel erschien auch in der Jüdischen Allgemeinen.

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